Die Rückkehr zum Lockdown light in Österreich, auch "Lockerung" genannt, wird von Hiobsbotschaften begleitet. Täglich sterben rund hundert Menschen an Covid-19. 92 Corona-Tote gab es laut der offiziellen Statistik – die wie die meisten von Behörden kommenden pandemierelevanten Daten an Verzögerungen und Nachmeldungen krankt – von Mittwoch auf Donnerstag, 142 gar waren es von 30. November auf 1. Dezember.

Das dadurch verursachte Leid hat die öffentliche Wahrnehmung noch nicht wirklich erreicht. Das mag an bereitwilligem Wegschauen in einer Gesellschaft liegen, die für die Verdrängung unangenehmer Wahrheiten anfällig ist – und ist trotzdem erstaunlich, denn für einen 8,8-Millionen-Menschen-Staat wie Österreich sind die Todeszahlen sehr hoch. In Deutschland sind im Verhältnis zur zehnmal so großen Bevölkerung bisher nur halb so viele Menschen an dem Virus gestorben.

Bis dato sei es gelungen, die Belegung der Intensivstationen knapp unter den Grenzwert zu zeitnaher Überlastung zu drücken, heißt es von regierungsberatender Seite.
Foto: APA/dpa/Jens Büttner

Keine grundlegende Entwarnung gibt es auch bei den Neuinfektionen, deren Zahl in Österreich zwar zurückgeht, aber weit nicht so schnell wie während des ersten Lockdowns im Frühling. Das Risiko, dass sich eine neue Infektionswelle in nur wenigen Wochen wieder aufbaut, läuft bei sämtlichen Zukunftserwägungen mit.

Das führt zu einer zentralen Frage: Ist die aktuelle Lage wirklich der richtige Zeitpunkt, um Lockerungen durchzuführen? Trägt die epidemiologische Situation die, wenn auch vorsichtigen, Liberalisierungsschritte? Oder sind diese Maßnahmen großteils von anderen Interessen motiviert, etwa das Weihnachtsgeschäft teilweise zu retten? Welchen Stellenwert nehmen politische Überlegungen ein, etwa innerhalb der EU?

Gemischte Aussagen

Wer sich diesbezüglich unter Pandemieexperten umhört, stößt auf gemischte Aussagen. Prognosen für mehr als zwei Wochen traue er sich nicht zu erstellen, sagt der Statistiker Erich Neuwirth, der privat und regierungsunabhängig valide Corona-Statistiken produziert. Aufgrund der chronologischen Überschneidung weicher und härterer Lockdownmaßnahmen sei unklar, ob und wann es in Österreich zu der erwünschten Verringerung der Inzidenzen von wöchentlich minus 50 Prozent kommen werde, wie es in Israel der Fall gewesen ist und die dortige Lage fürs Erste entspannt hat.

Bis dato sei es zwar gelungen, die Belegung der Intensivstationen knapp unter den Grenzwert zu zeitnaher Überlastung von 33 Prozent zu drücken, heißt es von regierungsberatender Seite. Vier Bundesländer lägen aber immer noch darüber, ein schwer kalkulierbares Risiko. Bei der Öffnung des Handels wiederum sei das Wie bestimmend. Menschenansammlungen müssten nicht nur in, sondern unbedingt auch vor Geschäften verhindert werden, um massive Fallsteigerungen abzuwenden.

Zudem ist bei regierungsberatenden Personen unter dem Siegel einer von Schweigeverpflichtungen diktierten Anonymität großer Frust über die Kommunikation der Kanzlerpartei ÖVP zu spüren. Dass Sebastian Kurz im "ZiB 2"-Interview am Mittwoch Reiserückkehrer für das "Einschleppen" des Virus im Sommer verantwortlich machte, wecke ausländerfeindliche Assoziationen, heißt es da.

Verdrängung, Zorn und fachliches Bauchweh begleiten somit das Ende des Lockdowns Nummer zwei. Für die kommenden Monate ist das eine schwere Hypothek. (Irene Brickner, 4.12.2020)