Ende des 18. Jahrhunderts wurde das alte Bürgerspital, das sich von der Kärntner Straße bis zum heutigen Lobkowitzplatz und von der Stadtmauer bis zur heutigen Gluckgasse erstreckte, zu einem begehrten Wohnhaus, dem Bürgerspitalzinshaus, umgebaut. Am 3. Mai 1810 erhielt es als jüngsten Bewohner Eugen Alexander Megerle von Mühlfeld, der als Sohn des Ehepaars Megerle von Mühlfeld galt. Sehr bald verbreitete sich das Gerücht, dass dieses Kind in Wirklichkeit der Sohn von Kaiser Napoléon von Frankreich und Emilie Victoria Kraus, seiner Geliebten, war. Dies wurde später noch durch eine auffallende Ähnlichkeit Eugens mit Napoléon verstärkt. Was aber waren die Ursprünge für dieses Gerücht?

Napoléon in Wien

Aus einem durchaus verlässlichen zeitgenössischen Bericht eines Historikers1 erfahren wir, dass Kaiser Napoléon die schöne Emilie Victoria Kraus 1805 bei einem Empfang in Wien kennengelernt hat. Er begann mit der Zwanzigjährigen, die in Wien bei einem Ziehvater aufgewachsen war, eine Liebesbeziehung. Sie wurde – entweder als Page "Felix" oder als junger Leutnant verkleidet – Napoléons Gefährtin auf vielen seiner Feldzüge. 1809 nahm der französische Kaiser nach dem Sieg bei Wagram im Schloss Schönbrunn Quartier. Obwohl ihn seine neue große Liebe, die Polin Maria Walewska, begleitete, führte er sein Verhältnis mit Kraus weiter. Im Herbst des Jahres 1809 waren beide Frauen schwanger. Ihre Söhne wurden im Mai 1810 innerhalb einiger weniger Tage geboren2.

Der Napoléonide

Der Historiker berichtet, dass der Sohn Emilie Victorias durch Vermittlung ihres Ziehvaters vom kinderlosen Ehepaar Megerle von Mühlfeld angenommen wurde. Am 3. Mai 1810 wurde die Geburt von Eugen Alexander Megerle von Mühlfeld im Taufbuch von St. Stephan in Wien eingetragen.

Eugen Megerle wuchs behütet in seiner gutbürgerlichen Adoptivfamilie auf, er studierte Jurisprudenz und Philosophie, machte sich bald einen Namen als glänzender Redner und angesehener Vertreter seiner Zunft und betätigte sich auch politisch. Seine vermutete nahe Verwandtschaft mit Napoléon I. führte zahlreiche Besucher aus Frankreich, darunter auch hochrangige Regierungsmitglieder, nach Wien, die seine große Ähnlichkeit mit dem inzwischen verstorbenen Napoléon rühmten. Als Abgeordneter wurde er zur Frankfurter Nationalversammlung 1848 entsandt, auch dort wurde diese Ähnlichkeit viel diskutiert. Allerdings war er dem Korsen nicht nur im Aussehen ähnlich, sondern auch in seiner Vorliebe für Frauen. Obwohl er in Wien bereits eine Familie hatte, brachte er aus Frankfurt eine Geliebte mit. Drei Kinder aus dieser Verbindung und die Sorgepflicht für seine ursprüngliche Familie führten, obwohl er ein gesuchter Strafverteidiger war, zu einem Leben stets am Rande des Bankrotts.

Napolèon.
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Megerle. Die Ähnlichkeit ist verblüffend.
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Megerle von Mühlfeld machte nicht nur als Advokat, sondern auch als Politiker und als Lehrender an der Universität Karriere. Als Dekan der juristischen Fakultät regte er die Gründung einer Advokatenkammer an, die sich 1850 konstituierte, und wurde deren erster Präsident. Seit 1861 war er Mitglied des Reichsrates, wo er seines Aussehens wegen den Spitznamen "Napoléonide" erhielt. Der politisch deutschliberal eingestellte Megerle trat für ein Bündnis Österreichs mit einem geeinten Deutschland, für die Abschaffung der Todesstrafe und vor allem für ein Zurückdrängen des allmächtigen Einflusses der Kirche ein. Er war der Initiator einiger Gesetze, die das Verhältnis von Kirche und Staat neu regelten. Neben vielen anderen Auszeichnungen wurde er zum Ehrenmitglied des Journalisten- und Schriftstellervereins Concordia ernannt. Hochgeachtet starb er am 24. Mai 1868. Er ist in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben. Die Büste auf seinem Grabmal beweist noch ein letztes Mal die Ähnlichkeit mit Napoléon.

Die Hundsgräfin von Salzburg

Wie aber verlief das weitere Leben seiner leiblichen Mutter, Emilie Victoria Kraus, nach der Trennung von Napoléon? Der Kaiser schenkte ihr eine hohe Abfertigung, die ihrem Ziehvater zur Verwaltung übergeben wurde, und eine großzügige Apanage. Nach einer kurzen, gescheiterten Ehe zog sie über den Umweg Vorarlberg nach Salzburg. Dort erwarb sie 1831 den Rauchenbichlerhof in Gnigl, wo sie nach dem Tod ihres Lebensgefährten mit Hunden, Katzen, Vögeln, Affen, angeblich an die 150 Tiere, zusammenlebte. Ein Jahr später musste sie nach dem Selbstmord ihres Ziehvaters feststellen, dass er ihr gesamtes ihm anvertrautes Vermögen verspielt und alle ihre Verbindung zu Napoléon betreffenden Papiere vernichtet hatte. Die wegen ihrer Tiere als "Hundsgräfin" bekannte Emilie verarmte trotz einer ihr gewährten Gnadenpension des österreichischen Kaiserhofs, ihr Besitz wurde versteigert und sie verwahrloste. Am Ende ihres Lebens wurde die ehemalige Geliebte Napoléons unter Kuratel gestellt. Sie starb am 15. April 1845 in Gnigl und ist auf dem dortigen Friedhof begraben.

Eine Gedenktafel an der Friedhofsmauer erinnert an die "Hundsgräfin von Salzburg", Emilie Victoria Kraus. An die üppige Schönheit ihrer Jugend erinnert ein von Napoléon beauftragtes Aktbild des bekanntesten Porträtmalers seiner Zeit, Johann Baptist Lampi, das auf einer paraguayanischen Sondermarke des Jahres 1971 verewigt ist.

Erinnerungen an den Napoléoniden

Zum Schluss die gute Nachricht: Die von Eugen Megerle von Mühlfeld initiierte Advokatenkammer besteht bis heute als Rechtsanwaltskammer fort und befindet sich noch am selben Standort wie im 19. Jahrhundert, im Ertlschen Stiftungshaus in der Rotenturmstraße 13. In der Leopoldstadt erinnert die Mühlfeldgasse an den Advokaten, Reichstagsabgeordneten und "Napoléoniden" Eugen Alexander Megerle von Mühlfeld. (Friederike Kraus, 11.12.2020)