Wenn die Intensivstationen überlastet sind, sterben auch mehr Nicht-Covid-Patienten.

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Die Corona-Pandemie belastet die Gesundheit. Doch es leiden nicht nur jene Menschen, die an Covid-19 erkranken. Die aktuelle Krise schadet auch anderen Patientinnen und Patienten und führt in dieser Gruppe zu einer erhöhten Sterblichkeit, wie eine länderübergreifende Studie der Austrian Health Academy über die erste Phase der Pandemie zeigt.

Warum das so ist, hat zwei Ursachen. Der erste Grund ist eine erhöhte Auslastung der Intensivstationen. Steigt sie um zehn Prozent, also etwa von 30 auf 40 Prozent der gesamten Kapazität, erhöht sich die Sterblichkeit um 3,5 Prozent. Dadurch sind 85 Prozent des Anstiegs der Sterblichkeit bei Nicht-Covid-Patienten zu erklären. "Unsere Daten weisen darauf hin, dass dieser Anstieg in den Kalenderwochen neun bis 21 überwiegend auf eine Umschichtung und Verknappung von Spitalskapazitäten in den meisten europäischen Ländern und somit einer Verdrängung von bestimmten Patienten zurückzuführen war", so die Studienautoren.

Die zweite Ursache fußt auf den strengen Eindämmungsmaßnahmen im Rahmen von Lockdowns. Gemessen wird die Schwere von Maßnahmen wie Schulschließungen, Ausgangssperren und Reisebeschränkungen mit dem so genannten Stringency-Index. Bei keinerlei Maßnahmen liegt dieser Wert bei 0, bei extremen Einschränkungen bei 10.000. Als Beispiel: In der Kalenderwoche 15, also im ersten Lockdown, lag der Stringency-Index für Österreich bei 8184. Wird dieser Wert um 1000 Punkte erhöht, so heißt es in der Studie, steigt die Sterblichkeit bei Nicht-Covid-Patienten um 0,6 Prozent.

Zu spät ins Spital

Doch warum erhöht ein Lockdown die Nicht-Covid-Sterblichkeit? "Die Gefahren einer Infektion wurden in den Medien und seitens der Behörden hervorgehoben. Das hat in den Bevölkerungen der EU-Länder Ängste geschürt", heißt es in der Studie. Die Folge: Viele Menschen sind zu spät oder gar nicht ins Spital oder zum Arzt gegangen. "Die Bevölkerung wurde im ersten Lockdown ja sogar dezidiert dazu aufgefordert", kritisiert Ludwig Kaspar, einer der Studienautoren.

Insgesamt ist die Non-Covid-Sterblichkeit für etwa 25 Prozent der Übersterblichkeit während der Pandemie verantwortlich, heißt es in der Studie. Beide Faktoren zusammen – die stärkere Auslastung der Intensivbetten und die strengeren Eindämmungsmaßnahmen – würden in Österreich zu 60 zusätzlichen Todesfällen pro Wochen führen, in Italien zu 500 und in Deutschland zu 750 wöchentlichen Toten.

Österreich wenig betroffen

Noch sind diese Zahlen für Österreich teilweise hypothetisch, denn: "Österreich war bisher dank einer hohen Dichte an Intensivbetten von einer sehr starken Bettenauslastung vergleichsweise wenig betroffen, der Druck steigt aber", sagt Studienautorin und Gesundheitsexpertin Maria Hofmarcher. Aktuell ist die für Covid-19 vorgesehene Kapazität zu etwa 70 Prozent ausgelastet, das sind etwa 30 Prozent der gesamten Intensivbettenkapazität in Österreich.

Ein Blick zurück in die Kalenderwoche 15, also mitten in den ersten Lockdown zeigt: Die Auslastung der Gesamtkapazität der Intensivbetten lag damals in Österreich bei zehn Prozent, der Stringency-Index, also die Strenge der Maßnahmen, war mit dem Wert 8184 hingegen sehr hoch. Dieser Vergleich zeigt, dass der Lockdown und die Ängste der Bevölkerung wohl einen weit höheren Effekt auf die Non-Covid-Sterblichkeit in Österreich hatten als die Auslastung der Intensivstationen, so Hofmarcher.

Die Grafik zeigt, dass die hohe Übersterblichkeit nur zum Teil durch Corona-Todesfälle erklärbar ist. (Eine Steigerung des Stringency-Index um 1.000 Punkte entspricht in unserer Skala der Steigerung um fünf Punkte.) Die Autoren berechnen die Non-Covid-19 Sterblichkeit als Differenz der gesamten Sterblichkeit pro Woche und der wöchentlichen Covid-19 Sterblichkeit, und vergleichen das Muster der Sterblichkeit mit jener zwischen 2016 und 2019. Die untersuchten Länder sind Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Spanien, Schweden, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich.


Das belegen auch einige Studien für Österreich, die zeigen, dass die Sterblichkeit durch Herzerkrankungen im ersten Lockdown zugenommen hat – die Zahl der unbehandelten Betroffenen sogar höher lag als jene der Covid-Opfer –, und es in diesem Zeitraum zu einer deutlichen Verzögerung bei der Aufnahme von Patienten mit Lungenembolien gekommen ist. Zahlen des Arzneimittel-Vollgroßhandels zeigen zudem für den ersten als auch für den aktuellen Lockdown bereits, dass es weniger Rezept-Einlösungen bei Medikamenten gegen Herzkrankheiten, Antidiabetika und Psychopharmaka gab und gibt.

Frage der Finanzierung

In ihrer Studie vergleichen die Autoren die wöchentliche Non-Covid-Sterblichkeit in mehreren europäischen Ländern sowie mit den Jahren zwischen 2016 und 2019. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass die Intensivbettendichte, die Altersstruktur, Vorerkrankungen sowie strukturelle Unterschiede in den jeweiligen Ländern eine große Rolle spielen.

Ein entscheidendes Kriterium ist die Finanzierung der Gesundheitssysteme. Länder wie Österreich, Deutschland oder Frankreich sind sozialversicherungs-finanziert, das Geld kommt also in erster Linie von Beiträgen der Versicherten und der Arbeitgeber.

Anders ist das in Italien, Spanien, Schweden oder Großbritannien, dort wird das Gesundheitssystem mehrheitlich über allgemeine Steuern finanziert, die Bürger müssen keine Beiträge zahlen. Die Organisation läuft weitgehend dezentral, der Bund steuert nicht mit, sondern regionale Gesundheitsbehörden sind für die Versorgung in ihrem Gebiet verantwortlich. Wie die Studie zeigt, verfügen diese stärker steuerfinanzierten Länder über relativ wenig Intensivbettenkapazitäten und kommen bei außergewöhnlichen Belastungen schneller an ihre Grenzen als Länder wie Österreich oder Deutschland. Studienautor Ludwig Kaspar dazu: "Für mich als Intensivmediziner ist klar, dass durch die niedrigen Intensivkapazitäten das Mortalitätsrisiko steigt."

Und noch einen weiteren Effekt haben die Autoren in ihrer Studie beobachtet: In einigen Ländern ist die Sterblichkeit im Sommer auf Werte unter dem Durchschnitt der Vorjahre gesunken. Grund dafür könnte sein, dass Menschen mit schlechtem Gesundheitszustand durch Covid-19, oder eine eingeschränkte medizinische Versorgung in diesem Zeitraum, vorzeitig gestorben sind und sie einige Wochen oder Monate später einer anderen Krankheit erlegen wären. Zu sehen ist dieser Effekt etwa in Belgien und Frankreich.

Lockdown unumgänglich

Trotz aller negativen Auswirkungen auf die Non-Covid-Sterblichkeit, sind die Studienautoren nicht der Meinung, dass man auf einen Lockdown im Frühling hätte verzichten können: "Wir wissen nicht, wie die Übersterblichkeit ausgesehen hätte, wenn es diese Maßnahmen nicht gegeben hätte", sagt Studienautor Christopher Singhuber.

Dennoch, so die Experten, hätte der Lockdown besser mit gesundheitlichen Maßnahmen begleitet werden müssen, so Hofmarcher: "Alle müssen versorgt werden, damit Menschen nicht vorzeitig sterben." Die Expertin fordert zudem ein Monitoring, das die gesundheitlichen Entwicklungen in der Bevölkerung im Auge behält und kritisiert die mangelnde Verfügbarkeit von Daten: "Warum so viele Menschen betroffen sind, die sich nicht mit Sars-Cov-2 infiziert haben, und wie diese geschützt werden können, muss mithilfe von aktuellen, diagnosespezifischen Auswertungen von Spitalsaufenthalten untersucht werden. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, diese Daten der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen."

Zudem fordern die Experten dringend höhere Investitionen ins Gesundheitswesen, um Österreich besser durch die Pandemie zu bringen. Ein Vergleich zu Deutschland zeigt, wie groß der Aufholbedarf wäre: Für das Corona-Krisenmanagement werden dort pro Kopf 302 Euro investiert, in Österreich sind es nur 55. Um es dem deutschen Vorbild gleich zu tun, wären demnach in Österreich Investitionen in der Höhe von 3,2 Milliarden Euro nötig. "Wir müssen dieses Geld jetzt für Prävention und Versorgung in die Hand nehmen, in Umschulungen investieren und Menschen in nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen besser entlohnen", sagt Hofmarcher.

Höhere Sterblichkeit

Auch wie es mit der Mortalität in der zweiten Welle weitergeht, wollen die Experten untersuchen und planen daher ein Update ihrer Studie im kommenden Jahr. Durch den aktuell starken Anstieg der Intensivbettenauslastung gehen sie derzeit von einer "auffallend höheren Non-Covid-Sterblichkeit" aus. "Es gibt eine Untersuchung, die zeigt, dass es in der zweiten Novemberwoche eine Übersterblichkeit von 700 Personen gab, 400 davon sind auf Covid und 300 auf Non-Covid zurückzuführen", sagt Ludwig Kaspar.

In der aktuellen zweiten Welle dürfte diese Non-Covid-Übersterblichkeit allerdings vermehrt auf die hohe Auslastung der Intensivstationen zurückzuführen sein und weniger auf Eindämmungsmaßnahmen bzw. Ängste, so die Autoren. "Hier gibt es in der zweiten Phase dieser Pandemie zum Glück ein besseres Bewusstsein und die Menschen wurden aktiv aufgerufen, auch weiterhin zum Arzt oder ins Spital zu gehen", so Kaspar.

Letztlich ist allerdings zu bedenken, dass durch die schlechtere Versorgung in der Pandemie nicht nur mehr Patientinnen und Patienten verstorben sind, "sondern es den Menschen insgesamt gesundheitlich nun deutlich schlechter gehen dürfte", sagt Singhuber. Und damit ist die erhöhte Sterblichkeit nur die messbare Spitze des Eisbergs. (Bernadette Redl, 6.12.2020)