Angst macht dumm, Humor hilft fast immer: die New Yorker Analytikerin Erika Freeman in Wien, der Stadt, die sie als Zwölfjährige verlassen musste.

Foto: Regine Hendrich

Das Luxushotel am Wiener Ring steht fast still. Die Drehtür dreht sich nicht, die wenigen Geschäftsreisenden, die hier übernachten, benutzen den kleinen Eingang nebenan, wo ein Desinfektionsspender bereitsteht. Nur ein Gast war schon vor dem zweiten Lockdown gekommen, konnte bleiben und hat nun den Prachtbau praktisch für sich.

Warum wohnt Erika Freeman im Hotel Imperial, wo sie doch eine Wohnung in Wien hat? Die kurze Antwort lautet: weil sie sich von einer Operation erholt und nicht die Stiegen in den zweiten Stock hinaufsteigen soll.

Die ausführlichere Antwort hat mit der Lebensgeschichte der Psychoanalytikerin zu tun, mit ihrer Kindheit als Jüdin in Wien, ihrer Karriere in New York und ihrer späten Freude, immer wieder in ihrer Heimatstadt zu sein. Wir werden noch darauf zurückkommen. Doch zunächst unterhalten wir uns über die gegenwärtige Ausnahmesituation, auf Englisch, was ihr geläufiger ist, wobei sie ihre Muttersprache gut beherrscht und manchmal auch in sie zurückfällt.

Leiden wird normal

Ich frage sie, wie es ihr in Zeiten von Corona geht. "Gut! Ich habe Glück. Ich sitze in einem schönen Hotel und muss nicht leiden. Als ich klein war, habe ich genug gelitten, jetzt nicht. Aber die Welt leidet." Wenn alle leiden, sagt sie, dann scheine das normal zu werden, "the new normal, doch nur in einem statistischen Sinn, nicht in einem ethischen".

Haben die vergangenen Monate sie nicht verändert? "Gar nicht. Ich habe nicht damit rechnen wollen, dass es mich erwischen könnte. Covid liegt wörtlich in der Luft, aber ich habe gemerkt, dass ich wenig Angst davor habe. Angst macht einen dumm. Es gibt da chemische Reaktionen, die Menschen in die Kampf-oder-Flucht-Haltung treiben, und das heißt, man wird weniger umsichtig. Wenn man es also schafft, die Pandemie weniger als einen persönlichen Angriff zu sehen – is this a Strafgericht vom lieben Herrgott?! –, dann fühlt man sich weniger als Opfer und reagiert klüger."

An den Menschen, die sie kennt, könne sie das ablesen. "Wer sich total zurückzieht, macht sich nur noch mehr Sorgen über Dinge, die gar nicht relevant sind." Zu den Leuten hingegen, mit denen sie Kontakt hat, entwickle sie eine Art Kameraderie, "in der Art: Schaut, wir stecken alle da drin, wenn auch getrennt. Letzteres ist natürlich wichtig, damit es nicht schlimmer wird."

Therapeutische Einsichten

Wenn Erika Freeman über etwas spricht, dann konkret und pragmatisch, aber auch weit ausholend, frei assoziierend – das gehört schließlich zu ihrem Metier – bis zu ihren Kindheitserlebnissen und zu therapeutischen Einsichten, die sie sich im Laufe einer langen Berufstätigkeit angeeignet hat. Wie lange, damit kokettiert sie manchmal.

Sie meint zu Recht, dass ihr Alter keine Rolle spielen sollte und viel angesammelte Erfahrung nur nützlich ist. So viel sei gesagt, dass sie vor einiger Zeit ihren "dreimal dreißigsten Geburtstag" feierte, den man ihr absolut nicht ansah, unter vielen anderen in Anwesenheit von Heinz und Margit Fischer, mit denen sie befreundet ist.

Der Ex-Bundespräsident überreichte ihr bei der Gelegenheit das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, ein Kamerateam hielt das Ereignis für eine Fernsehdokumentation über ihr Leben fest.

Unorthodoxe Direktheit

Seit zwanzig Jahren kommt Erika Freeman häufiger nach Wien. Über die Grenzen ihrer alten Heimat hinaus wurde sie bekannt, nachdem das Projekt Letters to the Stars sie 2008 eingeladen hatte, vor vielen Zuhörern über ihr Leben zu sprechen. Zu ihrer Popularität dürfte beigetragen haben, dass sie eine, wie sie selbst sagt, "Enkelin Freuds" ist – Theodor Reik, der Lieblingsschüler von Freud, war in New York ihr Mentor, und sie hat Gespräche mit ihm zu einem Buch verarbeitet (Insights, New York 1971).

Noch mehr aber tragen ihr Auftreten und ihre Ausstrahlung dazu bei, eine erstaunliche Mischung aus fast naiv wirkender Mädchenhaftigkeit und unorthodoxer Direktheit, mit der sie Dinge beim Namen nennt und dabei kein Blatt vor den Mund nimmt; und bei einem anzüglichen Witz kann sie lachen wie ein Bierkutscher.

"Es geht ein Zauber von ihr aus", sagt die Schriftstellerin Andrea Grill, in ihren autobiografischen Storys Liebesmaschine N.Y.C. erinnert sie sich an ihre erste Begegnung mit der Therapeutin: "Sie kam in die Küche wie eine Art Wetter, sobald sie auftrat, war alles anders."

Einprägsame Zitate

Gerne sagt Freeman Dinge, die sich einprägen und als Zitate für Mediengeschichten über sie und mit ihr herhalten, etwa: "Man muss ein bisschen meschugge sein, um nicht verrückt zu werden" (in Ö1 und bei einer Ehrung als "Woman of the Year" durch das Magazin Look) oder "Unglücklich zu sein macht dich auch nicht schlauer" (in einer Titelgeschichte im Zeit Magazin) oder "Jeder Mensch ist eine Entdeckung für mich" (im Augustin) oder "Wunder geschehen – man weiß nur nicht, wann" (siehe unten).

Viele hofieren sie auf Veranstaltungen, manche feiern damit auch sich selbst und klopfen sich auf die Schulter, als habe man sie eingemeindet, und alles sei nun gut.

Aber es ist nicht alles gut. Unter der Oberfläche, auf der sie Optimismus verbreitet, Menschen geduldig zuhört und ihnen hilft, ihre Probleme zu meistern oder zumindest besser zu verstehen – sei es in sich über Jahre hinziehenden Therapiesitzungen nunmehr vor allem am Telefon, sei es als Ratschlag am Ende einer Unterhaltung im Kaffeehaus –, unter dieser Oberfläche schimmern ihre Erinnerungen daran durch, wie schwierig ihr frühes Leben war.

Glück als Luxusgut

Erika Polesiuk war zwölf Jahre alt, als sie aus ihrer behüteten Kindheit in Wien gerissen wurde. Auf der Ausreisegenehmigung nach Palästina, wo sie eigentlich hinwollte, stand kein Name. Sie gab ihn einem anderen Mädchen und rettete es dadurch vor den Nazis, während sie selber ein Affidavit für die USA wahrnahm, "wo ich nicht hinwollte und wo man mich nicht wollte".

Als sie sich am Westbahnhof von ihrer Mutter verabschiedete, "ging mir dieser Gedanke durch den Kopf, dass ich nie wieder glücklich sein würde. Das war nicht einmal etwas Trauriges, es war wie: Draußen regnet es. Und ich hab eine Tür zugemacht." "Glück", sagte sie der Journalistin Annabel Wahba vom Zeit Magazin, "ist ein Luxusgut, über das man in Friedenszeiten nachdenkt."

Es war zunächst auch in New York kein Frieden für sie, wo entfernte Verwandte sie aufnahmen und nichts mit ihr anfangen konnten. Warum sie immer zu Hause Englisch lernte, statt draußen zu spielen, mäkelten sie. "But can you imagine me, ein wohlerzogenes Mädchen from Vienna, in 1940 in the streets of New York?!"

Sie wohnte bald in einem Pensionat, und ihr Bestreben war, so erzählt sie, tüchtig und tapfer zu sein, im Andenken an ihre Mutter. Sie fühlte sich als Waisenkind. Tatsächlich sollte ihre Mutter, die Denunzierung, Konzentrationslager und Jahre als U-Boot in Wien überstand, bei der Bombardierung des Philipphofs in den letzten Kriegswochen ums Leben kommen. Ihr Vater, so erfuhr sie, habe Theresienstadt nicht überlebt.

Was machst du hier, du bist doch tot

Doch dann, sagt sie, habe sich ein Wunder ereignet. Und was für eines. Zu Jom Kippur im Oktober 1946 ging ihr Onkel, der Schwager ihres Vaters, in New York nicht in die Synagoge, sondern auf dem Broadway spazieren. Und wer sah ihn dort?

"Mein Vater, der unterwegs nach Washington war und nur diesen einen Tag in der Stadt und von dem niemand wusste, dass er noch lebte, und der nicht wusste, dass ich noch lebte. Sagt mein Onkel: ‚Was machst du hier, du bist doch tot!‘ Und mein Vater sagt: ‚Nein, ich bin nicht tot. Das Kind ist tot.‘ Worauf mein Onkel sagt: ‚Das Kind ist hier!‘" Es war eine der Wendungen in Erika Freemans Leben, die erste nach acht Jahren, die ihr Mut gab und so etwas Glück wieder erlebbar machte: "Just to tell you how nice der liebe Herrgott is ..."

Sie studierte zunächst politische Wissenschaften, um ihrem Interesse an Palästina bzw. Israel eine Basis zu geben, und dann aus demselben Grund Psychologie, "damit ich verrückte Politiker davon abhalten kann, die Welt zu zerstören, und dadurch anderen Menschen helfen kann". Die Hoffnung mag naiv gewesen sein, aber die Berufswahl hat immerhin dazu geführt, dass sie in New York eine erfolgreiche psychoanalytische Praxis aufbaute.

Radio und Fernsehen

Gemeinsam mit Paul Freeman, einem Maler, Grafiker, Bildhauer und Kalligrafen, den sie 1954 heiratete, gehörte sie bald zu den Culturati Manhattans, der Kunst- und Kultur-Schickeria unter Einschluss der Bohème. Sie war im Radio als Expertin zu hören, bald auch im Fernsehen präsent und als politische Beraterin.

"Normale Neurotiker" interessierten sie nicht, sagt sie und erwähnt beiläufig, welche zwar durchaus neurotischen, aber wenigstens ungewöhnlich kreativen Menschen sie kennenlernte. Die Namen fielen in Interviews und führten bald zu dem Kurzschluss, dass sie wohl auch bei ihr auf der Couch gelegen haben müssen.

Noch heute etwa ist auf der fast fünf Jahre alten Webpage der Ö1-Menschenbilder zu lesen, dass Erika Freeman die "vielbegehrte Therapeutin (...) prominenter Persönlichkeiten" wie Marlon Brando, Paul Newman, Liv Ullman, Marilyn Monroe, Woody Allen etc. gewesen sei. Sie lässt das zwar stehen, betont aber, dass sie nie darüber spricht, wer wirklich bei ihr in Behandlung war – mit einer Ausnahme: der Schriftsteller Frederic Morton, und das nur, weil er selber sie in einem Artikel in der Village Voice namentlich als seine Therapeutin geoutet und sich über sie lustig gemacht hatte: "Ich hätte nicht wirklich geglaubt, hat er geschrieben, dass ich ihn geheilt habe, und er hoffe, dass dieser Artikel mich überzeugen würde."

Wut, Trauer und Mut

Apropos lustig machen: Neben beachtlichen Arbeiten, die es in Sammlungen und bis in die Albertina geschafft haben, hat Paul Freeman auch ein spöttisches Bilderbuch, An Introduction to Sigmund Freud, M.D., and Psychoanalysis, verfasst, gewidmet in einer Art jüdischer Selbstparodie "To My Wife, the Doctor". Ein Kapitel lautet "Der Mutti". "Er wusste natürlich, dass das falsch ist", sagt Erika Freeman, "aber er amüsierte sich darüber, dass er nicht Deutsch konnte. Und" – tiefere Bedeutung! – "da geht es wohl auch um starke Mütter und Vaterersatz. Die Deutschen haben zum Beispiel jetzt eine Frau als Staatsoberhaupt." Die würde manchmal als Mutti Merkel tituliert, werfe ich ein. "Oh yes? Good for her! M&M, good candy!"

Paul Freeman starb 1980, als sie Anfang fünfzig war. "Umbringen möcht’ ich ihn dafür, dass er so früh gestorben ist!" Der Satz könnte von der Tante Jolesch stammen. Andrea Grill schreibt, dass sie ihn öfters von ihr gehört hat.

Trauer und Wut sind da drin, aber auch ein befreiender Witz, mit dem sie das Geschehene hinter sich lassen möchte. Wann konnte sie wieder glücklich sein, frage ich sie. "Ich habe nicht darüber nachgedacht", sagt sie, "I just let it be." Kennt sie das als Assoziation – "speaking words of wisdom" – durchaus passende Zitat? "Oh yes, the Beatles."

In Wien lebt sie wegen Corona nun seit fast einem Jahr. Es kann sein, dass sie wieder nach New York fliegen wird. Sie würde Freundschaften vermissen, so wie sie die Theater vermisst, die in beiden Städten zu sind, aber: "Ich schließe dann eine Tür hinter mir zu."

Dann sagt sie noch etwas, bei weitem nicht zum ersten Mal, einen Satz, in dem sich späte Genugtuung mit kindlicher Freude mischt. Sie logiere so gerne im wunderbaren Hotel Imperial, es sei "meine Rache an Hitler". Doch sie weiß auch, dass Rache nicht glücklich macht.

Was macht glücklich in Zeiten wie diesen? Erika Freeman denkt kurz nach. "Nützlich sein für andere", sagt sie. (Michael Freund, ALBUM, 8.12.2020)