"Ich habe 50 Tage lang keinen Menschen berührt", erinnert sich Evelyn Shi während eines Spaziergangs durch den herbstlichen Türkenschanzpark an den ersten Lockdown. Zum damaligen Zeitpunkt lebte sie allein in einer großen Wohnung und traute sich aufgrund der Corona-Verordnungen nicht, ihre Freunde zu treffen. "Das war damals total verpönt", sagt sie. Shi verfiel in eine Depression. "Ich konnte nicht mehr in meinem Bett schlafen, weil es mir so groß und einsam vorkam, also habe mich auf die Couch verzogen." Tränen, Schlafstörungen und häufige Albträume waren die Folge.

Mehr als ein Drittel der Haus halte in Österreich sind Single-Haushalte. Die Corona-Verordnungen, vor allem während der Lockdowns, treffen alleinlebende Menschen besonders hart. In Familien, WGs und Partnerschaften sind Rückzug und Isolation auch keine schönen Erfahrungen, aber sie fallen nicht so sehr ins Gewicht. Allein schon.

Evelyn Shi (links) verfiel im ersten Lockdown in eine Depression. Jetzt geht sie bei Spaziergängen mit Freundinnen aktiv dagegen vor.
Foto: Urban

Doch Shi und ihr Freundeskreis wollten sich korrekt verhalten und die Vorgaben der Bundesregierungen einhalten. Also blieb sie zu Hause, traf wochenlang keinen Menschen. Stattdessen machte sie viel Sport, wie es von diversen Corona-Ratgebern als Stimmungsaufheller empfohlen wird. "Aber ich habe es nicht gemacht, weil es mir Spaß bereitet hat, sondern weil ich wusste, dass ich es tun muss, um irgendwie bei Sinnen zu bleiben."

Videokontakte kein Ersatz

Mit ihren Freundinnen und Freunden blieb sie, wie in der Zeit üblich, per Videotelefonie in Kontakt. "Telefonieren und Zoomen hat natürlich ein wenig geholfen, aber es waren vor allem Berührungen, die ich vermisst habe."

Auch die Psychologin Doris Wolf sieht darin das größte Problem des Lockdowns: "Virtuelle Kontakte können eine Berührung, eine persönliche Umarmung, ein Live -Gespräch, bei dem das Bindungshormon Oxytocin verstärkt ausgeschüttet werden kann, einfach nicht vollwertig ersetzen."

Jetzt, im zweiten Lockdown, ist auch für Shi, die kürzlich zur Neos-Bezirksrätin in Döbling gewählt wurde, vieles anders. "Im Frühjahr war es eine neue Situation für alle, und niemand wusste so richtig, was man wirklich darf und was nicht", sagt Shi über den ersten Lockdown. Nun sind die Parks geöffnet, Runden im Freien mit Freunden erlaubt.

Sich um andere kümmern

"Diesmal haben sich mehrere Leute gemeldet und mich zu Spaziergängen eingeladen", erzählt sie freudestrahlend. Trotz sinkender Temperaturen sind Treffen an der frischen Luft auch im zweiten Lockdown ein effektives Mittel gegen Einsamkeit und Lagerkoller.

Und auch das Verständnis gegenüber psychischen Problemen sei über die Monate gewachsen, zumindest empfindet Shi es so. "Klar, ich bleibe auch jetzt immer noch viel daheim. Aber ich habe kein schlechtes Gefühl mehr dabei, Freunde nach einem Spaziergang zu fragen, wenn es mir nicht gutgeht."

Die Psychologin Doris Wolf empfiehlt, aus sich herauszugehen, um die Einsamkeit zu überwinden: "Wir können die Gelegenheit nutzen und Freunde, zu denen wir schon lange keinen Kontakt mehr hatten, einfach einmal anrufen, um zu schauen, wie es ihnen gerade geht."

Das deutsche Max-Planck-Institut für Psychiatrie hat einen rund 30 Seiten langen Corona-Ratgeber her ausgebracht, in dem sich nicht nur Singles, sondern auch Familien wertvolle Tipps abholen können. Etwa anderen eine kleine Freude mit einem handgeschriebenen Brief zu machen. Oder ein Fragebogen, der dabei helfen soll, sich an schöne soziale Momente zu erinnern: "Bei wem können Sie am besten entspannen?", "Was machen Sie lieber gemeinsam als allein?"

Shi blickt hoffnungsvoller in die Zukunft, als das noch im Frühjahr der Fall war. Spaziergängen und Berührungen sei Dank. (Thorben Pollerhof, 7.12.2020)