Historisch gesehen haben Vergleiche der Corona-Skeptiker kein Fundament, dennoch steckt hinter ihnen oft mehr als blanker Hohn.

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Ein Demonstrant, der einen Judenstern trägt, auf dem "Nicht getestet" steht. Eine junge Frau, die bei einer angemeldeten "Querdenker"-Demonstration unter Polizeischutz sagt, sie fühle sich wie Sophie Scholl. Eine Elfjährige, die sich mit Anne Frank gleichsetzt, weil sie ihren Geburtstag nur geheim mit ihren Freunden feiern durfte. Und der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der sich und seine Anhänger als "die neuen Juden" beschreibt. So unterschiedlich die Protagonisten sind, eines haben sie gemeinsam: Sie vergleichen sich mit Opfern des Holocausts.

Historisch gesehen liegen sie dabei falsch. Die bestehende Demokratie, egal ob in Deutschland oder Österreich, ist mit Sicherheit nicht das "Deutsche Reich" unter Adolf Hitler. Zu Recht fühlen sich die tatsächlichen Opfer des Nationalsozialismus durch derartige Aussagen verhöhnt: Weder in Österreich noch in Deutschland gibt es Zwangskennzeichen wie den Judenstern für Menschen, die sich nicht impfen lassen möchten. Während Sophie Scholl nie eine Demonstration hätte organisieren, geschweige denn unter Polizeischutz abhalten können; weil sie Flugblätter verteilt hatte, wurde Scholl von den Nazis ermordet. Der Elfjährigen, die sich mit Anne Frank verglich, drohte auch in keinem Moment die Deportation in ein Konzentrationslager, hätte sie ihren Geburtstag doch größer gefeiert. Bei antifaschistischen Protesten gegen den Wiener WKR-Ball gab es in einigen Fällen Gewalt, von einer systematischen Verfolgung und Ermordung ähnlich jener im Holocaust kann aber keine Rede sein.

Fehlendes Wissen

Dass Menschen Äpfel mit Birnen oder eine Demonstration im heutigen Deutschland mit dem Widerstand Sophie Scholls während der NS-Zeit vergleichen, kann laut Andreas Peham vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) aber einen weiteren Grund haben. "Aus unzähligen Studien wissen wir, dass die Menschen vieles zum Thema Holocaust einfach nicht mehr wissen", sagt der Rechtsextremismus-Experte. Damit könne schnell jedes x-beliebige Leid in Bezug zum singulären Leid des Holocausts gesetzt werden, so Peham.

Jana aus Kassel, die sich mit Scholl verglich, reagierte mit Unverständnis auf den kritischen Zwischenruf eines Demo-Ordners. Er warf seine Weste weg, als er ihre Aussagen hörte. Dass sie mit ihrem Vergleich selbst in den eigenen Reihen ablehnende Reaktionen hervorrief, schien Jana nicht zu verstehen. Sie habe doch gar nichts gesagt, hörte man sie noch ins Mikro sprechen, kurz danach drehte sie sich um und begann zu schluchzen.

Selbsternannte Opfer

Diese Reaktion zeigt, dass nicht nur mangelndes geschichtliches Wissen hinter solchen Vergleichen steckt. Peham spricht in solchen Zusammenhängen von einem "emotionalen Überschuss". Das kann eine berechtigte Angst sein. Das Coronavirus ist eine ungewisse Gefahr. Dass sich selbst Experten, etwa bei Übertragungswegen und den richtigen Gegenmaßnahmen, nicht immer einig sind, erschüttert das Vertrauen einiger Menschen. Dazu kommen wirtschaftliche Sorgen, weil viele befürchten, ihren Job zu verlieren.

Diese Ängste bleiben aber unkonkret und werden damit auch mächtiger. Die Betroffenen sehen sich dann als Opfer eines "herrschenden Systems". Experten wie der Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, Michael Blume, nennen das "Selbstviktimisierung". Die Betroffenen blenden dann echte Opfer, etwa politische Gefangene in der Gegenwart, aus. Historische Opfer, zum Beispiel jene der NS-Herrschaft, könne man aber nicht ausblenden. "Mit denen setzen diese Menschen sich dann gleich", sagt Blume. Ein Kind, dass seinen Geburtstag wegen Corona-Maßnahmen nicht mit seinen Freunden feiern kann, setzt sich dann etwa öffentlich mit Anne Frank gleich.

Rechtsextreme Angstexperten

Die Selbstviktimisierung lockt auch jene an, die aus Angst politisches Kapital schlagen wollen. Im Fall der "Querdenker"-Demonstrationen wissen das rechtsextreme Agitatoren zu nutzen, sagt Peham. Sie bieten diesen Menschen reale oder virtuelle Räume, "um in ihrem Opfersein zu schwelgen". An diesen Orten bohre man in den Wunden der Menschen und beschleunige die Täter-Opfer-Umkehr. "Das ist ein Einfallstor für Rechtsextremismus", so Peham.

Je größer die Ängste der Menschen, desto abhängiger sind die Betroffenen von den Helfern, die eine vermeintliche Erklärung parat haben. Nicht selten sind das im Fall der "Querdenker" bereits organisierte Rechtsextreme. Ihnen kommt eine Relativierung des Holocausts gelegen, da die Anerkennung der NS-Opfer noch immer gewisse Grenzen des Sag- und Machbaren aufzeigt.

"Die neuen Juden"

Rechtsextreme wissen, wie sie den Holocaust für eigene Zwecke instrumentalisieren können. Die Strategie ist nicht neu, auch wenn sie gerade durch das Internet schneller Verbreitung findet. So sagte etwa der damalige FPÖ-Chef Strache 2012, dass Besucher des WKR-Balls "die neuen Juden" seien. Angriffe auf Burschenschafter-Buden seien "wie die Reichskristallnacht" gewesen. Demonstranten gegen den umstrittenen Ball bezeichnete Strache als "Stiefeltruppen der SA".

Doch wie passt das zusammen: ein rechter Politiker, der sich mit den Juden im Holocaust vergleicht? Blume erklärt die psychologische Mechanik dahinter mit Opferneid und Schuldumkehr: "Wer sich selbst viktimisiert, ist zum einen neidisch auf die Opfer, die ja Anerkennung bekommen." Gleichzeitig würden diese Menschen aber auch Schuld von sich weisen wollen. "Durch die Identifizierung mit den Opfern will man beides verbinden. Menschen müssen nicht mehr neidisch sein: Sie sind jetzt ja das Opfer. Und Opfer tragen ja keine Schuld."

Die Gewaltspirale

Während für rechtsextreme Politiker das Spiel mit der Angst meist ein Mittel zum Zweck ist, kann es für Einzelpersonen wie Jana aus Kassel die Suche nach Sicherheit und ein Schrei der Unzufriedenheit sein. Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, weisen eben auch immer auf ihr Schicksal hin, allerdings unter verdrehten Prämissen und mit falschen Mitteln. Das heißt: Menschen spalten quasi alles Böse und alles, was ihnen Angst macht, von sich ab und identifizieren das mit einer vermeintlichen Weltverschwörung, erklärt Blume. Dann sind sie die absolut Guten und die vermeintlichen Verschwörer die absolut Bösen.

Sich selbst primär als Opfer zu sehen kennt Peham nicht nur aus rechtsextremen, sondern auch aus islamistischen Fanatisierungsprozessen. Er sieht die Gefahr, dass es nicht bei den Opfer-Narrativen bleibt. Eine solche Dynamik könne letztlich auch zu Gewalt führen: Wenn man sich selbst als absolutes Opfer inszeniert, erkaufe man sich in der Konsequenz das Recht, selbst Gewalt anzuwenden. Als notwendige Reaktion auf die gefühlten und realen Ungerechtigkeiten des "Systems" werden alle Handlungen dagegen nur noch als legitime Notwehr wahrgenommen.

Für viele der besorgten Kritiker heißt das: Sie gehen neben Rechtsextremen auf "Querdenker"-Demonstrationen. Die Gruppen tauschen sich aus, vernetzen sich und marschieren am Ende des Tages gemeinsam gegen die vermeintliche "Corona-Diktatur" – geschützt von dem System, das sie eigentlich bekämpfen wollen. (Ana Grujić, Laurin Lorenz, 6.1.2021)