Dieser Abend an der Staatsoper wäre todsicher ausverkauft gewesen, wenn das Wörtchen Covid nicht wäre: "Mahler, Live" ist die erste Uraufführung unter dem neuen Ballettleiter Martin Schläpfer (60), der noch dazu aktiver Choreograf ist. Immerhin folgt der neue Chef einer Koryphäe wie Manuel Legris nach – und er hat es gewagt, ein Ensemble zu erneuern, das zuletzt im Schnitt sogar mehr Publikum hatte als die Opernaufführungen.

Trotz der pandemischen Umstände hat Schläpfer die 102 Tänzerinnen und Tänzer seiner Wiener Compagnie in eine Glanzleistung hineingesteigert. "Mahler, Live" absolvierte seine Premiere am Freitag vor fünf Kameras des ORF und zwei Handvoll Kritikerinnen und Kritikern. Das große Publikum war per Livestream auf "Arte concert" dabei, und ORF 2 sendet die bei dieser Gelegenheit gedrehte Aufzeichnung am kommenden Dienstag als Matinee.

Ensembleszene aus Martin Schläpfers "4" zu Gustav Mahlers 4. Symphonie.
Foto: Ashley Taylor

Nüchterner Titel, große Gefühle

In "Mahler, Live" ergänzen einander zwei Stücke. Den Beginn macht der moderne Klassiker "Live" des legendären Niederländers Hans van Manen (88) für ein Tänzerpaar und eine(n) Kamera(mann) aus dem Jahr 1979. Dazu in Beziehung setzt Schläpfer das von ihm eigens für Wien geschaffene Werk mit dem unaufgeregten Titel "4" zu Gustav Mahlers 4. Symphonie. Dem ORF-Publikum wird ausschließlich Teil zwei gezeigt. Wohl auch, weil van Manens "Live", wie auf "Arte concert" zu sehen ist, tatsächlich nur live funktionieren kann.

Anita Manolova, Calogero Failla, Maria Yakovleva und Masayu Kimoto in der Choreografie "4" von Martin Schläpfer.
Foto: Ashley Taylor

Dass Martin Schläpfers "4" seiner trockenen Bezeichnung auf ganzer Linie widerspricht, wird auch auf dem Bildschirm deutlich. Der gebürtige Schweizer destilliert aus der raffinierten Mahler-Komposition ein Füllhorn brillant strukturierter Szenen und aneinanderfließender Bilder mit den Tänzerinnen Yuko Kato und Rebecca Horner als leitmotivisch weiterführende "Charakter".

Der Gemeinschaftskörper tanzt

Hier bringt der Choreograf beide Truppen der Compagnie – die der Staatsoper und die der Volksoper – zusammen. Damit führt er dem Publikum das gesamte tänzerische Potenzial des Wiener Balletts vor Augen und kann zugleich Mahlers komplexer musikalischer Instrumentierung eine ebensolche Vielfalt im Tanz zur Seite stellen. Das Orchester der Wiener Staatsoper unter Axel Kober lockt und verführt die Tänzer, aus den Klangdynamiken ein Narrativ vom Gemeinschaftskörper zu generieren.

So wächst im Zusammenspiel von Musik und Tanz ein Entwurf gesellschaftlicher Bewegung, eine Metapher auf die vielschichtigen Energien der sozialen Kommunikation. Und die ist bunt, emotional, in einzelnen Passagen auch brutal. Da werden Verhältnisse von Individuen, Gruppen und Untergruppierungen zueinander getestet, Gefühlslagen in ironischer Ornamentik abgebildet, Wege begonnen und unterbrochen. Es wird gezögert, dann aufgetrumpft, gemeinsam mit den harten Spitzenschuhen auf den Boden geklopft wie um haltlos zu behaupten: "Aber jetzt, jetzt ist es soweit!"

Wie man zu zweit scheitert

In "4" bildet sich Vieles von dem, was uns zusammenhält und was uns voneinander trennt, in einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit ab, die das Publikum permanent dazu einlädt, genauer hinzuschauen und die Widersprüche, die Verunsicherung und das Zögern, die sich hinter dem Zauber des Gesamteindrucks verbergen, unter die Lupe zu nehmen.

Diese Lupe stellt Schläpfer selbst zur Verfügung: mit seiner Entscheidung, der Massenchoreografie von "4" Hans van Manens Trio "Live" voranzustellen. Zu einer ironischen Konfiguration aus Musikstücken von Franz Liszt – von "Sospiri!" ("Seufzer!") über das Wiegenlied bis zum Abschied – führen Olga Esina und Marcos Menha vor, wie man zu zweit scheitert. Angereizt werden sie durch Shino Takizawas perfekt über die Tasten tanzende Fingern und Henk van Dijks Präsenz mit seiner Videokamera, deren Nahaufnahmen und Totalen sich direkt auf eine Leinwand auf der Bühne überspielen.

Mikrokosmos und Makroskopie

So bildete Hans van Manen bereits 1979 die "Kernfamilie" der Mediengesellschaft ab: zwei Personen – hier Frau und Mann – mit Kamera beziehungsweise Bildschirm. Ein fataler Mikrokosmos, in dem das Gerät immer gewinnt. Dazu ist "4" (ohne Videobild) die Makroskopie, das Wimmelbild aus Vielfalt und Unübersichtlichkeit, ganz wie wir uns selbst im Anthropozän erfahren.

Pandemie hin, Schließungen her: Dieser Anfang eines neuen Kapitels der Wiener Ballettgeschichte jedenfalls ist konzeptuell, tänzerisch und choreografisch gelungen. (Helmut Ploebst, 5.12.2020)