Noch ist es in Ischgl leer.

Foto: Der Standard / Valentina Dirmaier

Bald wird aber auch das Paznauntal seine Tore für Gäste wieder öffnen können.

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Zuvor wird aber vielerorts versucht, vom Aprés-Ski-Image wegzukommen.

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Der Saisonnier Paul glaubt auch, dass Ischgl wieder gut besucht sein wird.

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Rudi Vogt hat sich mit Aprés-Ski nie identifizieren können. Er versucht andere Seiten des Tales hervorzuheben.

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Wie dieses Geweih hängen über den Namen Ischgl noch immer die Ereignisse des März als Tausende Menschen sich im Skiort infizierten.

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Hotels und Après-Ski-Hütten bleiben leer. Über allem hängt die Scham, im Frühjahr Europas Epizentrum der Corona-Pandemie gewesen zu sein.
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In einem Kuhstall im Hochtal zwischen Zuversicht und Zweifel, zwischen Vorarlberg und der Schweiz plagen sich zwei. Laura versucht, an einer Flasche mit Gumminippel zu saugen. Das Kalb hat wenige Stunden zuvor das Licht des Stalls erblickt. Paul Arndt will das Neugeborene mit Erstmilch füttern. Es ist eine Geduldsprobe.

Draußen ist es frostig, Schnee liegt an diesem Novembertag im Paznauntal nur über 3000 Metern. Das Tal ist still in seiner Vorurlaubszeit. Am 17. Dezember sollte hier in Ischgl die Skisaison beginnen. Doch auch das erweist sich als Geduldsprobe.

Pauls Freundin Laura steht hinter der hölzernen Kälberbox. Sie ist Namenspatronin des Kalbs. Das junge Paar aus Deutschland ist zu Besuch auf dem Hof, auf dem es im Frühling den Lockdown verbracht hat, von den Bauersleuten und Nachbarn umsorgt wurde. Paul und Laura sind Saisonniers. Sie sind letzten Winter nach Tirol gekommen, um Geld zu verdienen.

Doch in diesem Dezember ist alles ungewiss. Zum dritten Mal wurde die Saisoneröffnung verschoben. Paul hat Glück. Er hat eine Anstellung im Einzelhandel und ist zuversichtlich, dass der Winter gut wird. Laura hat Angst. Sie hat erst dann Arbeit, wenn Gäste einreisen dürfen – also voraussichtlich erst im Jänner. Bis dahin wollen die beiden die Sorgen im Schnee ersticken und den Heimvorteil auskosten: Einheimische haben ab 17. Dezember ein Vorrecht auf Pistennutzung.

Der Saisonnier Paul Arndt aus Deutschland hat sich in den Ort verliebt.
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Ursprünglich wollte der Student Paul nie hierher. Alles, bloß nicht Ischgl! Dem Dorf eilte ein Ruf voraus. Aber die Bezahlung passte. Dann kamen Corona und das große Debakel. Nach der ersten Ausgangssperre, als die letzten noch verbliebenen Auswärtigen endgültig aus dem Tal auszogen, beschlossen Laura und Paul zu bleiben. Sie tauschten ihr deutsches mit einem Landecker Kennzeichen und bezogen eine Wohnung im Nachbardorf von Ischgl. Sie geht bergsteigen und Ski fahren, er fährt Snowboard, trägt Holzclogs mit Kuhfell und bemüht sich, wie die Einheimischen zu reden, streckt dabei "st" zu "scht". Das "k" kratzt entlang der Stimmbänder.

Das Tal ist besonders, sagt Paul Arndt. Die Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt der Leute faszinieren ihn. Visionen und Mut haben Ischgl vom armen Bergbauerndorf zu einer der ersten Wintersportadressen der Alpen gemacht. Der Erfolg bringt Neider, das ist klar. Damit können die Einheimischen umgehen – aber nur sehr schwer mit der Wut und den Demütigungen, die folgten, nachdem Ischgl zum weltweiten Synonym für Unachtsamkeit in der Pandemie wurde. Das hat Paul Arndt Ende März zu einer Wutrede auf Facebook bewogen. Es sei nicht alles so, wie es geschrieben werde. Das musste er seinen Kumpels in Deutschland erklären. Die hätten ein verzerrtes Bild von seiner neuen Heimat.

Eindimensionales Ortsbild

Die Skipisten, die im Grenzgebiet Samnaun an den 3000er-Bergen hängen, und die Postkartenpanoramawanderungen bleiben in Geschichten über Ischgl meist unerwähnt. Das ist nicht erst seit Covid-19 so. Mallorca Tirols, Ballermann der Alpen – es sind diese Zuschreibungen, die Rudi Vogt so sehr verabscheut. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende des Tourismusverbands hat eine Mission: Er will die schönen Seiten seines Heimatorts präsentieren. Zigmal hat er Journalisten auf Pressereisen geführt, auch jetzt, Mitte Oktober. Es geht auf einem Wanderweg durch den Matsch vom ersten Schneefall zum Berglisee.

Zu dieser Wanderung in den Talkessel, wo sich das Blau des Himmels im stehenden Wasser spiegelt, hat der pensionierte Skilehrer schon die RTL-Moderatorin Birgit Schrowange überredet. Die sei von der kitschig-schönen Natur angetan gewesen – im Bericht kam dann aber wieder nur das Partyleben vor. Rudi Vogt konnte dem Après vor dem Ski nie viel abgewinnen. Schneller Suff, schnelles Geld. Einige wenige Betriebe im Dorf würden das große Geschäft machen, aber alle müssten die Kritik ausbaden. Doch dieses Thema, glaubt der Pensionist, habe sich jetzt eh erledigt.

Rudi Vogt, früherer Chef des Ischgler Tourismusverbands, würde so gern ein anderes Bild von Ischgl zeichnen.

Der Tourismus wird sich verändern und mit ihm Nachfrage und Angebot. Mehr Klasse, weniger Masse, meint Vogt. Die Urlauber würden schon wieder zurückkommen. Viele schreiben regelmäßig. Ein deutsches Pärchen hat gerade Grüße von den Seychellen geschickt – und die Frage, ob sie Silvester ein Zimmer bekommen können. Alle Stammgäste, die Rudi Vogt nach den vielen Jahren lieber "Freunde" nennt, muss er zum wiederholten Mal vertrösten. Kein Skiurlaub vor dem 7. Jänner. Frühestens. Das erste Mal bleibt Rudis Pension, die inzwischen Sohn Christian führt, über die Feiertagen leer. Kein Weihnachten mit den Gästen, kein Gesang, keine Geschenkübergaben. Ein trauriger Gedanke.

Einen Monat vor dem ursprünglich geplanten Saisonbeginn sind die Straßen in Ischgl leer. Das unterscheidet 2020 nicht von den vorherigen Jahren. Von Oktober bis in die zweite Novemberwoche ist Ruhezeit. Aus den Schornsteinen qualmt es, vereinzelt ist Licht in den Erdgeschossen der Bettenburgen. Hektisch ist es nur auf den drei Großbaustellen: Parkanlage, Mitarbeiterhaus und eine Therme werden im Zentrum aus dem Boden gestampft. Vor den Hotels und Pensionen parken Fahrzeuge von Montagefirmen, die Umbauarbeiten erledigen. Die Krise tut den Projekten keinen Abbruch.

Die Kontur Ischgls ist einem ständigen Wandel unterworfen. Das mag die Formel für den langjährigen Erfolg sein: Die Ungenügsamkeit ist Antrieb. "Wir sind ein Volk, das alles perfekt haben will", sagt Rudi. Es gibt kein Haus, das dem Verfall überlassen wird. Aus einfachen Einfamilienhäusern oder Eindachhöfen wurden über die Jahrzehnte mehrstöckige Bauwerke.

Was wird kommen?

Auch das Haus von Rudi Vogt wurde komplett modernisiert. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, die Mutter war Alleinerzieherin, der Vater verstarb früh. Rudi musste nach Kirche und Schule auf den Kartoffelacker. Er sei immer fleißig gewesen, habe seinen Skilehrerverdienst investiert und das Garni – wie "Zimmer mit Frühstück" auf Rätoromanisch heißt – über die Jahre zu einer stattlichen Pension ausgebaut. Vor der letzten Saison wurde renoviert. Die Zimmer, das Foyer, der Eingangsbereich, alles neu und mit Bankverbindlichkeiten. Schulden und ein leeres Haus, das macht Rudi und Christian Vogt Sorgen. Eine kritische Saison kann das Vater-Sohn-Gespann schon überstehen. Aber was dann? Wird es wieder gute Winter geben? Seinen Höhepunkt hat Ischgl vielleicht überschritten, glaubt Rudi.

So offen wie Rudi spricht kaum jemand in Ischgl, schon gar nicht, wenn das Gesagte veröffentlicht werden soll. Medienvertreter sind knapp neun Monate nach dem ersten bestätigten Corona-Fall im Tal geächtet. Die meisten Ischgler fühlen sich falsch beschuldigt. Zu viel wurde über sie berichtet – und zu wenig mit ihnen geredet. Auf der Suche nach Gesprächspartnern hagelt es Absagen.

Weitergehen soll es

Benjamin Parth nimmt die Anfrage an, lädt an einem Novembermorgen ins Café seines Hotels Yscla zu Tisch. Parth ist so etwas wie das Wunderkind der heimischen Gourmetküche. 2009 war er jüngster Haubenkoch Österreichs, 2019 Gault-Millau-Koch des Jahres. Sein Restaurant Stüva hat vier Hauben. "Z’Neue muss immer besser sein wie Z’Alte", lautet das Mantra des 32-Jährigen. Darüber denkt er viel nach. Vielleicht braucht es einen Umschwung in der Branche. Wieder mehr Qualität und Gastfreundschaft. Beides habe gelitten, sagt er vorsichtig. Über die Vorwürfe gegen den Ischgler Tourismus will er nicht sprechen, das stellt er klar. Ihm geht es um das Jetzt, die Zukunft und sein erstes Buch. Angeberküche für jedermann war sein Lockdownprojekt: Saibling-Ceviche, orientalisches Lamm, Estragon-Baiser. Entstanden in der vielen Freizeit und wegen der wachsenden Fanschar auf seinem Insta-Kanal.

Haubenkoch Benjamin Barth überlegt, wie es trotz Corona weitergehen soll. Er entwickelt laufend neue Konzepte, um seine 40 Mitarbeiter halten zu können.
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Nun tüftelt er an einem Gourmetabholservice für den Heiligen Abend und Silvester. Und nach dem Lockdown eröffnet er ein Pop-up-Sushirestaurant, sein fünftes Lokal. Damit will er flexibel zwischen Gästeaufkommen und Mitarbeiterverfügbarkeit jonglieren.

Die Aktivität lenkt von den Sorgen ab. Die Bindung zu seinen vierzig Mitarbeitern ist eng. Der Hausmeister und seine Frau etwa kommen zusammen auf fünfzig Saisonen. Sie sind wie Familie. Ob er alle Angestellten halten kann, wenn die Geschäfte weiter so schlecht laufen, steht in den Sternen.

In seinem Boutiquehotel ist es fast unheimlich ruhig. Keine Mitarbeiter, die aufräumen. Es liegt etwas Staub, ein paar Kartons stapeln sich an der Bar und Lieferungen neben dem Hoteleingang. Für die Pandemiesaison wird in Sicherheit investiert: periodische Mitarbeitertests, zwei Dutzend Desinfektionsspender und Wärmebildkameras, um infizierte Gäste ausfindig zu machen. Vielleicht seien seine Maßnahmen drastisch, aber Parth will nichts und niemanden dem Virus überlassen. Covid habe alles verändert. Die Perspektive, die Motivation und die Leute. Eines sei vielleicht gut daran: Das Virus hätte die Ischgler in der Krisenzeit wieder näher zusammengebracht.

Es ist so lange still im Kitzloch, bis zwei Jäger vorbeikommen. Auf der Hängebrücke, die die Schlucht überspannt, ist der Blick hinunter nach Ischgl am schönsten. Der Name kommt aus dem vorigen Jahrhundert, als die Bauern die Kitz in die Felsschneise trieben. Unter den Füßen donnert der Fimbabach talwärts, vorbei am anderen, berüchtigten Kitzloch. Dem Lokal, dem europäischen Epizentrum der Covid-19-Pandemie.

Fast trotzig hält Bernhard Zangerl am Namen "Kitzloch" fest, obwohl die Après-Ski-Hütte zum Synonym für die Unachtsamkeit angesichts der Pandemie wurde. Er baut eine Terrasse, damit weitergefeiert werden kann.
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Die Partyterrasse

Bernhard Zangerl führt um das mehrstöckige Holzhaus, vorbei an der Baustelle zum Lieferanteneingang. Neben der Waschstraße stapeln sich Gläserkörbe, auf dem Gang Merchandiseartikel. Überall steht Kitzloch. Der Name bleibt am Haus, das ist unumstößlich. Der hat inzwischen Werbewert und Historie. Anders als seine Nachbarn – aus ihrer Après-Ski-Bar Wedelalm wurde die Café-Bar Wedelalm – will sich Zangerl nicht von der Bezeichnung Après-Ski trennen, er schäme sich wegen des Namens nicht. Die Hüttengaudi-Atmosphäre gehöre zu Ischgl einfach dazu, sagt Zangerl. Das Geschehene ist ein Unglück.

Mit Saisonbeginn gilt auf öffentlichen Plätzen und Straßen in Ischgl ein Alkoholverbot. Betrunkene Krawallbürsten, von Reisebussen in Skiorte gekarrt, sollen aus dem Dorfbild verbannt werden. Zangerl baut jetzt eine Terrasse im Freien, damit trotz der neuen Gemeindevorschriften gefeiert werden kann.

An Einrichtung und Speisekarte ändert sich nichts. Fleisch vom Betrieb der Eltern – der Stall, ein Prachtbau für 80 Rinder, 70 Schafe und 15 Schweine steht im Nachbarweiler Mathon. Landwirtschaft ist populär bei den Ischglern. Dabei gibt es im Dorf kaum Höfe, sie mussten den Hotels weichen. Die Ställe sind ausgesiedelt, die Arbeit dort ist ein Hobby. Ein Ausgleich zum Fremdenverkehr – und derzeit auch eine Ablenkung in der Ungewissheit.

Der begegnet Neo-Ischgler Paul mit Zuversicht. Der Winter kommt. Und es wird ein guter werden. Warum? Weil ihm der Bauer eine alte Volksweisheit verraten hat: Viele Wespen im Sommer machen einen guten Winter. Diese Hoffnung lässt er sich nicht nehmen. (Valentina Dirmaier, 6.12.2020)