Chinesische Uno-Friedenssoldaten im Kongo ...

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... offene Grenze auf der irischen Insel: ohne Uno und EU beides undenkbar.

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Oft sind es gerade die dunkelsten Stunden in der Geschichte, die den Weg für visionäre Ideen bereiten. So war das 1944. Am 1. Juli dieses Jahres kamen in einem Hotel in Bretton Woods in den Wäldern von New Hampshire, USA, Delegierte aus 45 Staaten zu einer Konferenz zusammen. Sie hatten eines gemeinsam und ein Ziel: Als Mitglieder des Wirtschafts- und Währungsausschusses der 1942 ausgerufenen Vereinten Nationen wollten sie an Lösungen arbeiten, wie man wirtschaftliche und politische Katastrophen durch enge Kooperation der Staatengemeinschaft vermeiden könnte.

Unter ihnen war auch der britische Ökonom John Maynard Keynes. Sie alle hatten erlebt, wie die Weltwirtschaft nach dem Börsencrash 1929 binnen weniger Jahre um ein Drittel geschrumpft war – Not, Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit waren die Folge.

Die Nationalstaaten schotteten sich ab. In Europa kamen in den 1930er-Jahren Faschisten an die Macht, in Deutschland die Nationalsozialisten mit Adolf Hitler, der der Wehrmacht im Herbst 1939 den Angriff auf Polen befahl. Die Welt zerbrach im Krieg.

Die dunkelsten Tage

Die Umstände, unter denen dieses Treffen in Bretton Woods stattfand, hätten dramatischer nicht sein können. Der Zweite Weltkrieg kam in eine entscheidende Phase, deren Ende freilich niemand abschätzen konnte. Anfang Juni waren US-Truppen mit den Alliierten in der Normandie gelandet. In Deutschland bereitete eine Widerstandsgruppe mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg das Attentat auf Hitler in der Wolfsschanze vor.

Es scheiterte am 20. Juli. Der Krieg und die Shoah, die industrielle Vernichtung der Juden, gingen weiter. Mitten in diesem Kriegswahnsinn kam die Konferenz nach drei Wochen am 22. Juli zu einem erfolgreichen Abschluss: Es lag ein Konzept auf dem Tisch, wie die Staaten gemeinsam gegen Währungsturbulenzen vorgehen, sich in Krisenzeiten mit wechselseitigen Kredithilfen vor Zahlungsunfähigkeit bewahren, sich unter Reformauflagen großzügige Aufbauhilfen gewähren.

Die großen Dinge

So wurde der Internationale Währungsfonds (IWF) geboren, parallel dazu die Weltbank, eine Entwicklungsbank für den Wiederaufbau. Im Dezember 1945 nahm der IWF seine Arbeit auf. 67 Jahre später diente er als Vorbild für den ESM, den Stabilisierungsmechanismus der Eurozone, vulgo Eurorettungsfonds, dem am Anfang 17 Länder der Währungsunion angehörten.

Keynes notierte in Bretton Woods: "Es hat noch nie einen so weitreichenden Vorschlag gegeben, in derartigem Umfang heute Beschäftigung zu schaffen und in Zukunft die Produktivität zu erhöhen." Aber er war sich nicht sicher, ob es gelingt: "Ich habe Zweifel, ob die Welt die großen Dinge bereits versteht, die wir hier zustande gebracht haben."

Wenn man die Dokumente heute nachliest, in der Corona-Krise, mit dem Brexit im Nacken, in der größten Wirtschaftskrise seit 1945, stechen zwei Charakteristika ins Auge. Zum einen der Optimismus, dieser unbeugsame, fast absurde Wille der Internationalisten, die bösen Geister der Vergangenheit zu besiegen. Zum anderen die Rationalität der Herangehensweise, das Wissen, dass dafür Fakten und tragfähige Strukturen geschaffen werden müssen. Darin spiegelt sich das Grundprinzip aller multilateraler Organisationen seit mehr als hundert Jahren: das "Prinzip Hoffnung".

So heißt der Titel des Hauptwerks des deutschen Philosophen Ernst Bloch: Er war Marxist, wurde als Jude vertrieben, kehrte nach dem Krieg von den USA als Professor nach Leipzig in die DDR zurück, wandte sich vom Regime ab, emigrierte nach Tübingen in den Westen. "Die Hoffnung nagelt eine Flagge an den Mast", schrieb dieser Utopist.

Grundwerte und Strukturen

Die Grundwerte, die Hauptziele, die Statuten dürfen nie vergessen werden. Das gilt für den IWF und die Weltbank, die Uno (der 193 Staaten angehören), die Weltgesundheitsorganisation WHO oder die WTO, die Welthandelsorganisation – und natürlich für die Europäische Union, die EU. Deren aller Geschichte ist von Rückschlägen gezeichnet, aber sie haben sich letztlich immer bewährt.

Weht die Fahne der Hoffnung nicht, droht ein Scheitern wie beim Völkerbund. 1920 nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen, zerbrach er, weil die Nationalstaaten in alte Kriegsmuster zurückfielen, weil die Struktur zu locker war. Das erinnert an die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950, seinen Plan zur Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie. Auf ihn geht die heutige EU zurück, die mit den Römischen Verträgen 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begann. Schuman wollte Kriege im Ansatz verhindern.

Wie das gelang? Durch gemeinsame Regeln und Strukturen; die Herrschaft des Rechts als oberstes Prinzip, indem die Staaten wichtige Teile staatlicher Souveränität an gemeinschaftliche Institutionen abgaben. Es wurde eine "Hohe Behörde" für Kohle und Stahl geschaffen, heute die EU-Kommission, ein Gerichtshof, ein Europäisches Parlament. Europa werde "durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen", so Schuman. Das war die große gemeinsame Hoffnung.

Risse durch Erweiterung

Bis zur Umsetzung der großen EU-Erweiterung nach Osteuropa ab 2004 war das völlig unbestritten. Seit einem Jahrzehnt aber gibt es Risse. Die Neomitglieder Ungarn und Polen stellen die Rechtsstaatlichkeit offen infrage, die Säule des europäischen Multilateralismus schlechthin. Nach der Wirtschaftskrise 2008 driftete Großbritannien weg. 2016 kam es zum Referendum über den EU-Austritt, der am 1. Februar 2020 realisiert wurde. Der Brexit war der bisher größte Rückschlag für die Hoffnung auf eine große europäische Einigung.

Die noch größere Gefahr für Europa und die Welt, für das Konzept des Multilateralismus, ging seit 2016 von US-Präsident Donald Trump aus. Sein "America first" wirkte zeitweise wie weltpolitischer Nihilismus in Bezug auf vertrauens- und hoffnungsvolle Kooperation. Trump stieg aus dem Klimaabkommen aus, stellte das transatlantische Verteidigungsbündnis Nato offen zur Disposition, hungerte WTO und WHO aus, er zeigte der EU die kalte Schulter und vieles mehr.

Knapp, aber doch wendete sich das Blatt vor vier Wochen: Mit Joe Biden wurde ein Präsident gewählt, der als Musterexemplar für offensive internationale Zusammenarbeit gilt. Gleich im Frühjahr will er zu einem EU-USA-Gipfel nach Brüssel reisen. Das Prinzip Hoffnung könnte in Europa doch noch wirken. (Thomas Mayer, 6.12.2020)