Was gibt in der Pandemie Hoffnung? Dieser Frage geht der Pastoraltheologe, Religions- und Werteforscher Paul M. Zulehner im Gastkommentar nach.

Es zeigt sich Licht am Ende des Corona-Tunnels. Impfstoffe sind in Sicht. Nicht nur die Börsen, auch viele Menschen atmen auf. Zaghaft wächst die Hoffnung, dass sich bald wieder "normales Leben" einstellen kann: keine Ausgangssperren, kein Abstand, keine Masken, herzliche Umarmungen, keine Angst vor Ansteckungen, keine Reisewarnungen, offene Gastronomie und gottesdienstliche Feiern für jene, die sie in der Zeit der Pandemie vermisst haben.

Die Konsumbereitschaft, wie hier vor dem Lockdown auf der Wiener Mariahilfer Straße, stützt das globale Wirtschaftssystem. Aber soll man nach der Pandemie wieder die "kranke Normalität" hochfahren?
Foto: APA / Roland Schlager

"Die Menschen werden nach der Erfahrung des Social Distancing Begegnungen mehr schätzen und suchen." Zwei von zehn der 11.353 Befragten in meiner interkontinentalen Corona-Online-Studie haben dieser Aussage zugestimmt. Und vier von zehn Befragten finden den Satz richtig: "Die Erfahrung der Verwundbarkeit des Lebens wird viele dazu bewegen, ihr Leben mehr zu genießen."

Werden wir schätzen lernen, was wir in der Zeit der Pandemie entbehren mussten? Ist Corona eine Art kollektiver Fastenkur für einen überhitzten Lebensstil, in dem wir die Akzente falsch gesetzt haben, weil wir uns zu wenig Zeit für unaufgeregte Mitmenschlichkeit gönnten? Immerhin halten es neun von zehn Befragten für wünschenswert, dass "wir uns mehr Zeit für Freunde und Familie nehmen" werden.

Begründete Angst

Solche Zuversicht wird rasch gedämpft, blickt man auf die vorhersehbaren Nachwirkungen der Pandemie, die nicht weggeimpft werden können. Solounternehmen, Familienbetriebe oder Kunstprojekte stehen vor dem Aus. Viele Menschen sind auf Kurzarbeit gesetzt, andere haben ihren Arbeitsplatz verloren oder hegen begründete Angst davor. Die Informatisierung, welche wie einst die Industrialisierung zu einem tiefgreifenden Umbau des gesellschaftlichen Gefüges führen wird, wurde in der Zeit der Pandemie beschleunigt.

Zu den Verlierern der Corona-Krise zählen die Vergessenen: die Migranten sowie das Klima. Sieben von zehn Befragten bedauern es, "dass in der Zeit des Lockdowns das Flüchtlingsthema in den Hintergrund getreten ist". Weil die Pandemie die armen Länder wirtschaftlich noch stärker getroffen hat als die reichen Länder, wird jene Migration zunehmen, welche sich hoffnungsloser Armut verdankt. Hinsichtlich des Klimas haben die Lockdowns nur marginale Entlastung gebracht. Dabei halten drei Viertel der Befragten "die Herausforderung durch die Klimakrise für weitaus schwerwiegender als jene durch die Covid-19-Pandemie".

"Neue Normalität"

Wir sehnen uns wieder nach "normalem Leben". Für viele bedeutet das, so frei und opulent leben zu können wie vor der Pandemie. Die Hälfte der Befragten nimmt auch an, "dass die meisten Menschen weiterleben werden wie bisher". Ein Drittel meint hingegen, "es wird sich viel ändern". Diese Menschen hoffen auf eine "neue Normalität". Sie wollen kein "Hochfahren" des bekannten Betriebssystems, sondern wünschen tiefgreifende Veränderungen.

Die Unterbrechung durch die Covid-19-Krise eröffne die Chance, einer "kranken Normalität" (Papst Franziskus) zu entkommen. Viele in der Studie stimmen dem Papst zu. Es werde, so hoffen sie zuversichtlich, zu einem tiefgreifenden Umbau der Schlüsselinstitution Wirtschaft unserer Gesellschaft kommen. Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten von vielen Regelungen befreit und bestimmt längst die globale Entwicklung. Sie kann viele Erfolge vorzeigen.

Besseres Leben

Zumindest in den städtischen Zentren der armen Regionen der Menschheit ist ein besseres Leben für viele möglich geworden. Aber, so fragen viele, ist der Preis dafür nicht hoch? Die Schere zwischen Reich und Arm tut sich immer noch weiter auf, nicht nur zwischen dem Norden und dem Süden, schon in Europa, noch mehr auf dem Globus. Selbst im reichen Österreich gibt es zu viele Kinder unter der Armutsgrenze. Die Pandemie hat aufgedeckt, dass es große Bevölkerungsgruppen gibt, die sozial verletzlicher sind als andere. Auch seien viele Bereich des Wirtschaftens, zudem private Haushalte, nach wie vor eine bedrohliche Belastung des Weltklimas.

Hoffnung gebe es daher nur, so viele in der Umfrage, an der sich überdurchschnittlich viele Akademiker beteiligt haben, wenn das neoliberal-kapitalistisch geprägte Wirtschaftssystem in eine ökosoziale Marktwirtschaft umgebaut werde. Chancen dafür bestünden derzeit viele: Die staatliche Unterstützung der Konzerne oder von Fluglinien sollte verbindlich an nachhaltige ökologische Umbauprogramme gebunden werden.

Frage der Kaufkraft

Zum derzeit global dominanten Wirtschaftssystem gehört, so die Analysen der Kommentare in der Umfrage, dessen Bindung an die Konsumbereitschaft der Bevölkerung. Sie erinnern an den polnischen Soziologen Zygmunt Baumann, der angelehnt an Descartes formulierte: "Consumo ergo sum!" Gewerkschaften, welche in Gehaltsverhandlungen die Trumpfkarte der Stärkung der Kaufkraft ausspielen, stützen das neokapitalistische Wirtschaftssystem.

Der Kölner Psychotherapeut Manfred Lütz schrieb in der Rheinischen Post während der Pandemie in einem Beitrag: "Oberflächliche Gewissheiten verschwinden, aber dadurch schaut man vielleicht auch mal ein bisschen tiefer. Tatsächlich ist es ja so, dass alle Menschen sterben müssen. Alle. Wir denken im Alltag nur nicht dauernd daran, und das muss man auch nicht. Aber im Moment kann man dieser Realität weniger gut ausweichen. Und das Besondere ist, dass wir das alle gleichzeitig kollektiv erleben."

Die Studie dämpft solche spirituelle Zuversicht. Lediglich vier von zehn stimmen der Aussage zu: "Die Menschen werden sich ihrer Verwundbarkeit und Sterblichkeit bewusster sein." (Paul M. Zulehner, 5.12.2020)