Jahrzehntelanges Kaputtsparen, 139 Schließtage in der Corona-Pandemie, das Kartenhaus Kulturbetrieb halte keinen weiteren Belastungsproben mehr stand, so Bernhard Günther vom Musikfestival Wien Modern im Gastkommentar.

Bundeskanzler Sebastian Kurz kündigte diese Woche Lockerungen ab Montag an. Zu Ende ist der Lockdown im Kulturbetrieb, außer für die Museen, aber noch nicht.
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Der Bundeskanzler signalisiert aktuell genaues Kostenbewusstsein für die Pandemiepolitik der Regierung: In der Pressekonferenz am Mittwoch beantwortete er die Frage, warum der Handel am 7. und nicht erst am 9. Dezember öffne, damit, dass "jeder Tag der Schließung Unsummen an volkswirtschaftlichem Schaden auslöst", konkret eine Woche rund eine Milliarde, zwei Tage mehrere 100 Millionen Euro Kosten für den Steuerzahler. Zugleich beschließt die Regierung einen nächsten Monat Lockdown für die Kultur und erhöht damit die Zahl der bislang verordneten Schließtage für weite Teile des Kultursektors auf 139. Was diese Unsumme von Tagen in Kosten ausgedrückt genau bedeutet, darüber scheint sich die Regierung derzeit noch weitgehend in Sicherheit zu wiegen.

Das mag damit zu tun haben, dass die Kosten – für Künstlerinnen und Künstler, die Betriebe und den Staatshaushalt – zur Lebenslüge der Kulturnation Österreich geworden sind. Noch im Oktober wurde der Öffentlichkeit "nach der größten Budgeterhöhung der letzten Jahrzehnte" ein Bundeskulturbudget in Höhe von 0,5 Prozent der Staatsausgaben als großer Erfolg verkauft. Wieso war nirgends davon die Rede, dass das halb so viel ist wie noch in den 1990er-Jahren und weniger als ein Fünftel des Kulturanteils in Frankreich?

Unter Druck

Weil dem Kulturbereich erfolgreich eingeredet wurde, dass er froh sein muss, wenn beim ungleichen Verhandeln zwischen Kulturstaatssekretärin und Finanzminister zumindest 30 zusätzliche Millionen Euro für ein Jahr herauskommen oder wenn gestern ein neuer Fördertopf verkündet wird, acht Monate später als in der Schweiz und selbstverständlich kleiner; dass es eine furchtbare Belastung für einen Staat ist, über viele berühmte alte Traditionsinstitutionen zu verfügen, dass wahlweise die Großen und die Kleinen, Alt und Neu, Stadt und Land oder die unterschiedlichen Kunstsparten füreinander das Problem sind, dass "Subventionskunst" tendenziell unbedeutend ist und dass der Markt es schon richten wird.

Das stabile Funktionieren vor allem des Musiksektors wurde in Österreich in immer stärkerem Maße von der öffentlichen Hand aufgegeben und dem Markt überlassen. Das erweist sich in der aktuellen Krise als hochriskantes Spiel. "Wir stehen alle unter enormem ökonomischem Druck" – dieser Stehsatz signalisierte schon vor Corona vielerorts minimalen Spielraum für nichtkommerzielle, risikofreudige, innovative, langfristige Entscheidungen.

"Fair Pay und Innovation sind in kulturpolitischen Sonntagsreden zu hören, budgetär aber außer Reichweite."

Flaggschiffe wie das Wiener Konzerthaus müssen rund 90 Prozent ihres Haushalts selbst einspielen. Weite Teile der freien Szene werden im Vergleich zu Berlin, Zürich, Paris, Oslo oder Brüssel mit symbolischen Beträgen abgespeist. Fair Pay und Innovation sind zwar vermehrt in kulturpolitischen Sonntagsreden zu hören, budgetär aber außer Reichweite. Ganz selbstverständlich wird erwartet, dass jenes Budget, das beim deutschen Festival Donaueschinger Musiktage ein Wochenende ergibt, beim österreichischen Pendant Wien Modern einen Monat reicht.

Ein Kartenhaus

Das mantraartig vorgebrachte letzte Argument der Kulturpolitik – "Dann macht doch weniger" – zeigt das Ausmaß der Lebenslüge: Während Kulturförderungen teilweise dramatisch gesunken sind, sind unzählige Aufgaben und Erwartungen neu dazugekommen. Nachwuchsarbeit, Vermittlung, Publikumsentwicklung, Gender-Equality, Fair Pay, freie Szene, Regionalität, Multikulturalität, neue Orte abseits der Zentren, neue Formate, spartenübergreifende Neuproduktionen, breite Kommunikation über Internet, Video und Social Media u. v. a. – das wenigste davon haben die teils viel besser dotierten Kulturinstitutionen der 1990er-Jahre auch nur annähernd so geleistet, wie es heute absolut unabdingbar ist, wenn Kultur nicht aus der Gesellschaft verschwinden soll. Was genau davon dürfen wir denn bitte weglassen, wie weit sollen wir das Rad der Zeit denn zurückdrehen, um die Welt wieder anzupassen an die heutigen Mittel der Kulturpolitik?

Seit Jahrzehnten verdankt die Kultur in Österreich ihren immer noch passablen Außenauftritt nur noch einer Einsatzbereitschaft, Prekariatstoleranz und Dauerzauberei aller Beteiligten, die in jedem anderen Wirtschaftsbereich längst zur Stilllegung oder zur Revolution geführt hätten. Die immerwährende Flexibilität und Belastbarkeit des Kulturbereichs sind selbstverständlich geworden. Nach Jahrzehnten des Kaputtsparens und neun Monaten chaotischer Verordnungen, gipfelnd in 139 Schließtagen mit womöglich nachfolgenden Jo-Jo-Effekten, steht ein Kartenhaus, das keinen weiteren Belastungsproben standhält. Ein Potemkin’sches Dorf, das hinter alten Fassaden eine sterbende Kulturlandschaft versteckt.

Budgetpolitische Wende

Je länger der Kulturlockdown dauert, je mehr Betriebe in die Lähmung der Kurzarbeit flüchten, je schlimmer das Prekariat seine zerstörende Wirkung ausbreitet, je mehr Hilfsmaßnahmen wie der Fixkostenzuschuss an weiten Teilen des gemeinnützigen Kultursektors vollkommen vorbeigehen, umso mehr wird klar: Das, was der Staat aktuell für Kultur auszugeben bereit ist, wird nicht einmal im Ansatz reichen, um das Kulturleben, wie wir und die Welt es kennen, über die absehbar jahrelangen Nachwirkungen des Katastrophenjahres 2020 hinweg zu retten. Das Überleben dieses uralten, beispielhaft innovativen, komplexen, vielfältigen und großartigen Ökosystems liegt jetzt in den Händen einer Regierung, die Kultur für eine in Summe vernachlässigbare Größe hält.

Ich weiß nicht, auf welche Form eines Appellschreibens aus dem Kultursektor die Bundesregierung genau wartet. Aber wenn die über 100.000 Beschäftigten der Kulturwirtschaft sowie die Unsummen von Künstlerinnen und Künstlern nicht zur nächsten Welle an Intensivpatienten werden sollen, für die dann leider jede Hilfe zu spät kommt, dann muss jetzt endlich ein über Jahre tragfähiger Rettungsplan für Kunst und Kultur erarbeitet werden. Die Zeit der Sonntagsansprachen in der Kulturpolitik ist vorbei. Die einzige gute Nachricht ist: Inzwischen wissen alle, dass der Staat mehr tun kann, wenn er nur will. (Bernhard Günther, 4.12.2020)