Das Bild der spontanen Geste ging am 7. Dezember 1970 um die Welt: Willy Brandt, sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, kniet vor dem Denkmal des Ghetto-Aufstands in Warschau.

Foto: Imago Images / Sven Simon

Sie wissen, dass sie das Foto kennen sollten, daran lässt der Ton der Pädagogin keinen Zweifel. "Wer erklärt uns, was wir hier sehen?", fragt sie und deutet auf eine Aufnahme des knienden Kanzlers Willy Brandt. Die deutschen Schülerinnen und Schüler schweigen. Sie sind in Polen, um das Konzentrationslager Auschwitz zu besichtigen. Am nächsten Tag werden sie vor den Schuhbergen der Häftlinge stehen und weinen. Die Pädagogin bereitet sie sanft vor: Mit dem Kniefall in Warschau, erklärt sie, habe der Kanzler um Vergebung für die NS-Verbrechen gebeten.

Dank Willy Brandts Geste, lernen die Jugendlichen, konnten sich Deutschland und Polen wieder versöhnen. Doch 50 Jahre nach dem Kniefall sieht das längst nicht jeder so. Die beiden Länder gehen unterschiedlich um mit der gemeinsamen Geschichte. Das überschattet auch ihr Verhältnis in der Gegenwart.

Abseits des Protokolls

Am 7. Dezember 1970 versetzte Willy Brandt die Anwesenden in Warschau in Staunen. Das Protokoll lautete so: Ankunft am Warschauer Flughafen, zwei Kranzniederlegungen, Unterschrift des Warschauer Vertrags, politische Gespräche. Bei der zweiten Kranzniederlegung, jener vor dem Denkmal für die Opfer der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, ging der Kanzler unerwartet auf die Knie. Brandt, zu Kriegszeiten ein Antifaschist, verstand, dass Verträge nicht reichten, um die diplomatischen Beziehungen wieder aufzubauen.

Im Auto hatte er erfolglos versucht, den polnischen Premier Józef Cyrankiewicz, einen ehemaligen Auschwitz-Häftling, in ein Gespräch zu verwickeln. Mehr als 20 Jahre lang hatte Stille geherrscht zwischen ihren Ländern. Brandt war der erste westdeutsche Regierungschef, der nach dem Krieg ins kommunistische Polen kam. Dort prägten die Folgen der deutschen Besatzung den Alltag immer noch. Viele Polen trauerten um ihre Angehörigen und forderten Entschädigungen. Die Deutschen wiederum verarbeiteten die brutale Vertreibung aus westpolnischen Gebieten.

Ungleiche Beziehungen

Heute verbindet knapp ein Drittel der Polinnen und Polen Deutschland mit dem Stichwort Krieg. Das zeigt das "deutsch-polnische Barometer", eine Umfrage, die seit 20 Jahren jährlich durchgeführt wird. Umgekehrt verbinden nur acht Prozent der Deutschen Polen mit Krieg, ihre ersten Gedanken gelten der polnischen Kultur, dem Tourismus und der Sprache.

In Polen glauben viele, die Deutschen wollten sich nicht mit den Folgen der deutschen Besatzung aus einandersetzen. "Der Kniefall Willy Brandts ist keineswegs ein Symbol für die deutsch-polnische Versöhnung", sagt etwa Stanisław Żerko, Historiker am West-Institut in Posen. "Es ist höchstens ein Symbol für die deutsch-jüdische Versöhnung." Das Denkmal, vor dem Brandt kniete, erinnert an die Jüdinnen und Juden, die im Warschauer Ghetto ermordet wurden.

"Die Deutschen kennen den Holocaust und wissen vielleicht noch, dass polnische Bürger Juden in Jedwabne ermordet haben", sagt der Historiker. "Aber von den Verbrechen an der polnischen Bevölkerung wissen sie nichts."

Die Regierung in Warschau geht auf historischen Konfrontationskurs. Das sogenannte "Holocaust-Gesetz" sorgte 2018 für Aufruhr: Wer polnische Bürger für NS-Verbrechen verantwortlich macht, muss mit Geldstrafen rechnen. Gegner des Gesetzes befürchten, damit werde eine ehrliche Diskussion über Antisemitismus in Polen blockiert.

Mittlerweile vergeht kaum ein Tag, an dem regierungsnahe Medien nicht mit antideutschen Ressentiments spielen. Vor der Präsidentschaftswahl richtete sich die Hetze gegen deutsche Journalisten, die den Polen vorschreiben würden, wen sie zu wählen hätten. Wer für deutsche Medien berichtet, muss seither bei jeder Recherche mit Beschimpfungen rechnen.

Klischees auf beiden Seiten

Das schwierige Verhältnis belastet nicht nur den politischen Dialog, was sich bei Konfliktthemen wie der Migrationspolitik, der Gaspipeline Nord Stream 2 oder dem aktuellen Streit um Rechtsstaatlichkeit und EU-Haushalt bemerkbar macht. Es beeinflusst auch Alltagssituationen. Wer als Deutschpolin die Grenze überquert, trifft schnell auf Fragen, die das Eis kaum brechen: "Wie ist es, in einem autoritären Staat zu leben?", fragen Deutsche. "Ohne EU-Geld wäre in Polen ja nichts", sagen sie. "Fühlt man sich sicher als Frau in Deutschland, bei all den Flüchtlingen?", fragen die Polen. Die Deutschen sollten sich "um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern".

Seit Willy Brandt in Warschau auf die Knie fiel, hat sich das deutsch-polnische Verhältnis zwar immer weiter verbessert, die Nachbarn nähern sich aneinander an. Die aktuellen Spannungen erinnern dennoch daran, wie viel Arbeit in dieser komplizierten Beziehung noch steckt. (Olivia Kortas aus Warschau, 7.12.2020)