Matilda De Angelis, Hauptdarstellerin der Serie "The Undoing", wühlt in sozialen Medien auf.

Foto: HBO

Öffentliche Debatten werden heutzutage gerne in sozialen Medien angestoßen. Im Nebenuniversum des Serienstreamings wird gerade heftig über zwei Szenen im HBO-Krimithriller "The Undoing" diskutiert. In der Serie wird eine Frau mit Migrationshintergrund brutal ermordet, das Verbrechen passiert im Milieu des New Yorker Geldadels, dort ist auch der Kreis der Verdächtigen zu finden, allen voran ein Ehepaar, er Arzt, sie Psychotherapeutin – beide erfolgreich. Die Vorgeschichte des Mordes wird ebenso erzählt wie die Suche und schließlich – mit spektakulärem Ende – Enttarnung des Täters. Ein klassisches Whodunit in epischer Breite, mit den Schauspielstars Nicole Kidman, Hugh Grant und Donald Sutherland prominent auf Spannung programmiert.

Was stört nun daran?

Genau genommen geht es um zwei Szenen. Die eine zeigt das zukünftige Mordopfer, ihr Name ist Elena (Matilda De Angelis), wie sie bei einer Einladung unter Damen der Gesellschaft ihre Brust entblößt, ihr Kind stillt, worauf die Ladys angesichts solch natürlicher Freizügigkeit verstört kichern und tuscheln. Die zweite Szene zeigt eine Begegnung zwischen Elena und der Psychotherapeutin Grace in der Damengarderobe eines Fitnessstudios. Die Frauen unterhalten sich, Elena steht dabei nackt vor Grace. Die fühlt sich sichtlich unwohl und peinlich berührt.

Wir fassen zusammen: Eine Frau, die in der Öffentlichkeit stillt und die in einer Damengarderobe nichts anhat, ist Ziel einer öffentlichen Debatte. Die schöne Elena kursiert als "shocking scene" im Netz, und man muss sich schon die Frage stellen, was an dieser Szene so schockierend sein soll, außer dass sie ein klassisches Element im Spannungsbogen eines Krimis ist: ein Ereignis, das für das Verbrechen eine Rolle spielt – und in dem Zusammenhang überdies ziemlich konstruiert wirkt, selbst wenn man einräumt, dass eine sozial privilegierte Harvard-Absolventin und eine mittellose Latina in ein und dasselbe Fitnessstudio gehen.

Entblößung irritiert

Aber egal, interessant ist, dass offenbar die schlichte Entblößung irritiert, wo man doch annehmen könnte, dass sich im digitalen Raum bewegende Menschen einiges an Nacktheit gewöhnt sind. Was ist so schlimm an dieser Darstellung, dass sie den virtuellen Geräuschpegel auf Anschlag bringt?

Zum einen liegt es schlicht am Aufbau der Erzählung. Elena, das spätere Mordopfer, wird als Bedrohung inszeniert. Sie lebt in einfachen Verhältnissen, lässt sich aber nicht in die Rolle der armen Latina eingliedern, die Almosen politisch korrekter Leute aus der Gesellschaft mit unterwürfigem Dank annimmt. Sie betritt im Gegenteil die Welt der Reichen und Schönen selbstbewusst und offensiv. Ihre Erotik wirkt vulgär und gefährlich, aber gleichzeitig auch anziehend – insbesondere auf Grace.

Das drückt sich auch in der Stillszene aus. Das Auspacken des Busens verstört und fasziniert die Ladys: Muss das wirklich sein? So, vor allen? Aber hat sie nicht unfassbar wohlgeformte Brüste?!

Schamgefühl der US-Gesellschaft

Zum anderen spiegelt der Kidman'sche Ekel das Schamgefühl der US-Gesellschaft wider, das schon immer als ausgeprägter galt und in dem Europa als Sehnsuchtsort für körperliche Freizügigkeit diente. Streamingfernsehen wird von US-Serien dominiert, was für die Amerikanisierung von Gefühlen sprechen würde. Und selbst wenn auf den europäischen Kulturraum das hohe Peinlichkeitsbewusstsein nicht eins zu eins übertragbar ist, lässt sich auch hierzulande eine zunehmende Ablehnung öffentlich ausgestellter Nacktheit unter Privatpersonen beobachten: Im Schwimmbad herrscht außerhalb der FKK-Zonen unausgesprochenes Oben-ohne-Verbot. Wer sich nicht daran hält, wird mit verächtlichen Blicken gestraft.

Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahrzehnten war der enthüllte Körper ein Zeichen für Freiheit, "oben ohne" wurde lustvoll sogar in öffentlichen Schwimmbädern zelebriert, am kroatischen Hausmeisterstrand quollen die FKK-Zonen über. Für viele ist das heute undenkbar. Laut einer Umfrage sind mittlerweile 44 Prozent aller Deutschen gegen Nacktbaden, ein Volk, das traditionell FKK-affin war. Nacktsein wurde zum No-Go erklärt.
Wie bei allen Veränderungen unserer Zeit ist auch diese neue Züchtigkeit in der Hauptsache Folge des digitalen Lebens und birgt Unsicherheit. Wer kann schon sicher sein, dass im FKK-Bereich nicht der nächste Spanner mit Fotohandy wartet?

Angst vor der sozialen Degradierung

Angst nimmt ihren Raum und der Enthüllungskultur ihre Unbeschwertheit. Schamgefühl ist die "Angst vor der sozialen Degradierung", heißt es bei Norbert Elias. Sozialer Status, Achtung in der Gesellschaft haben im individuellen Dasein und im ständigen Bewertungsmodus durch soziale Medien immens hohe Bedeutung. Die Währung für Beliebtheit sind Klicks und Likes. Daraus entstehen Ängste, vor allem in der Frage, was die anderen denken. Der Zwang zur Selbstkontrolle wächst.

Fairerweise muss man sagen, dass es in "The Undoing" um mehr geht als um Nacktheit. Die Serie ist trotz ihrer überraschend traditionellen Erzählweise eine Art Gesellschaftskritik im Kleinen. Es geht um Verrat und Treue, um Loyalität und Betrug und um die Maske, die den Anstand wahren soll. Und sie zeigt Geschlechterrollen, wie sie vielleicht auf sozialen Rängen funktionieren, die für durchschnittliches Streamingpublikum nicht einsehbar sind. Dass auch dort beruflich erfolgreiche Frauen für Be- und Erziehungsarbeit zuständig sind, wohingegen Männer sich auf Beruf und Geliebte konzentrieren sowie Fahrtendienst für das Kind spielen, Knuddeln inklusive.

Nichts zu verlieren

Elena ist in ihrem Status ganz unten, hat nichts zu verlieren. Ihr ganzer Stolz ist ihr naturschöner Körper. In einer Szene haben Grace und ihr Ehemann Jonathan Sex – natürlich sauber und unter der Bettdecke. Ein Sittenbild, das mehr aussagt als die Shocking-Rufe in sozialen Medien. Oder, wie es bei Foucault heißt: "Die moderne Gesellschaft ist pervers, aber nicht trotz ihres Puritanismus oder als Folge ihrer Heuchelei; sie ist wirklich und direkt pervers." (Doris Priesching, Beate Hausbichler, 11.12.2020)

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