34 Kühe leben am obersten Deck der Floating Farm, darunter werden Molkereierzeugnisse produziert.

Foto: Iris van den Broek

Madame Curie trägt die Nummer 7146 im Ohr. Annabels Nachname lautet 7155, wie der gelbe Stecker verrät. Und hinter der 7269 steckt die weiß gelockte Cashcow, Hoffnungsträgerin für die künftige wirtschaftliche Prosperität.

"Wir haben unsere Farm im Mai 2019 eröffnet, und eigentlich hätten wir im August dieses Jahres den Break-even-Point erreichen sollen", sagt Minke van Wingerden, "aber dann kam Corona. Nun rechnen wir damit, dass sich der Betrieb ab Frühjahr 2021 von allein wird tragen können. Bis dahin müssen wir noch viel Milch und Joghurt verkaufen."

Die Farm mit der Adresse Gustoweg 10, angesiedelt im Rotterdamer Merwehaven im Osten der Stadt, im größten Tiefwasserhafen Europas, ist alles andere als ein gewöhnlicher Bauernhof. Umgeben von Lagerhallen, Möbelhäusern und Gewerbebetrieben hat er eine physikalisch wie auch ortsspezifisch tragfähige Besonderheit: Alle 34 Kühe wohnen auf Wasser. Damit ist die Floating Farm, Resultat eines privat finanzierten Forschungs- und Entwicklungsprojekts, eine Weltpremiere.

Klimatisches Worst-Case-Szenario

"Die Idee kam meinem Mann und mir 2012 während einer Geschäftsreise nach New York", sagt die 59-jährige Farmbetreiberin. "Nachdem zu diesem Zeitpunkt der Hurrikan Sandy die Stadt und einige ihrer wichtigsten Infrastrukturpunkte überschwemmt hatte, war die Lebensmittelversorgung nach nur zwei Tagen unterbrochen. Wir wussten: So etwas kann in den Niederlanden, die ja zum Teil unter dem Meeresspiegel liegen, ebenfalls jederzeit passieren. Also haben wir beschlossen, uns mit zukunftsfähigen Lösungen für Lebensmittelversorgung im klimatischen Worst-Case-Szenario zu beschäftigen."

Gemeinsam mit ihrem Mann Peter, einem ausgebildeten Kulturtechniker und Bauingenieur, entwickelte Minke van Wingerden sechs Jahre lang ein Konzept für eine schwimmende Kuhfarm, suchte nach einem passenden Grundstück, trug fast unlösbare Konflikte mit den städtischen Behörden aus und investierte hunderttausende Euro in ihre Vision.

Eine öffentliche Förderung haben die beiden bis heute nicht gekriegt – und das, obwohl das sich ständig neu erfindende Rotterdam für seine innovativen architektonischen und stadtplanerischen Pionierprojekte bekannt ist und damit in aller Welt wirbt.

Bauernhof in der Stadt

"Einen Bauernhof im städtischen Gebiet ohne ländliche Weidefläche gab es noch nie", sagt van Wingerden, "und wenn wir von einem holländischen Golfklub und von ein paar lokalen Fußballvereinen den gemähten Rasen als Kuhfutter zur Verfügung gestellt bekommen oder die Kartoffelschalen von einer nahe gelegenen Pommes-frites-Fabrik, dann dürfen wir keinen Futtertransport anmelden, sondern brauchen eine Genehmigung für Mistentsorgung. Unter solchen Bedingungen braucht Innovation einen wirklich langen Atem."

Bis jetzt sind keine Fälle von Seekrankheit bei Kühen bekannt.
Foto: Iris van den Broek

Ein Containerschiff hat gerade eine Kehrtwende gemacht, ein paar Wogen schwappen gegen die Kaianlage, der schwimmende Ponton schwingt leicht auf und ab. "Nein", sagt Hendrik Kampen, Bauer auf See, "bis jetzt sind uns keine Fälle von Seekrankheit bekannt. Dazu muss man wissen, dass Kühe und viele andere Tiere mit riesigen Transportern quer über den Erdball geschippert werden – meist ohne Probleme."

Teil-autarkes System

Eine Studie der tierärztlichen Universität von Utrecht lieferte die behördlich notwendige Bescheinigung. Meist, erzählt Kampen, müsse man die Kühe – es handelt sich um das holländische Maas-Rhein-Ijssel-Rind, kurz MRIJ – sogar regelrecht auf die Wiese hinaustreiben. "Sie scheinen das leichte Schaukeln des Stalles zu lieben."

Der Bauernhof misst 27 mal 27 Meter und beinhaltet sämtliche Elemente eines zumindest teilweise autarken Systems. Auf dem obersten Deck wohnen die Kühe. Gemolken wird automatisch mittels eines Roboters. Über eine Verbindung mit dem Chip im Halsband der Kuh erkennt dieser, wann Cashcow, Annabel und Madame Curie zuletzt gemolken wurden.

Die Drecksarbeit übernimmt ebenfalls ein Roboter. Während die Jauche über ein Gittersystem selbstständig nach unten rinnt, sammelt das fahrbare Ding den Kot ein und befördert diesen ebenfalls in die darunterliegende Ebene.

Recycling-Jauche

Im mittleren Geschoß befinden sich die Lagerflächen fürs Tierfutter sowie die gesamte Molkereiproduktion. Auf dem Programm stehen Milch, Buttermilch und mehrere Sorten von Joghurt. Mit Ab-Hof-Preisen von 1,50 Euro für einen Dreiviertelliter Milch und 2,10 Euro für ein halbes Kilogramm Joghurt rangieren die Produkte zwar über dem Supermarktschnitt, aber das scheint den Absatz von rund 700 Litern pro Tag nicht zu schmälern. Auch ein Frischmilchhahn für unpasteurisierte Milch steht den Kunden zur Verfügung.

In der untersten Etage schließlich, die zugleich als schwimmender Hohlkörper dient, werden Jauche und Trockenmist getrennt aufbewahrt und für die weitere Verwendung aufbereitet. Der Kot wird getrocknet und der Stadt Rotterdam als Düngemittel weiterverkauft.

Aktuell arbeitet man mit der Universität Delft daran, aus der Jauche Salze und Mineralien zu filtern, sodass man sie künftig zum Bewässern des Rasens wiederverwenden kann. Den für den Betrieb nötigen Strom liefern die Solarpaneele, die neben dem Kuhstall auf einem eigenen Ponton ebenfalls auf der Wasseroberfläche treiben.

Gespräche mit Singapur

"In Zukunft wollen wir das Modell multiplizieren", sagt Minke van Wingerden. Abgesehen hat man es auf Städte und dichtbesiedelte Ballungsräume am Meer sowie auf in Not geratene Hochwasserregionen. Mit der Regierung von Singapur ist man bereits in konkreten Gesprächen. "Der Stadtstaat hat kaum noch Agrarreserven an Land und muss 96 Prozent seiner Lebensmittel importieren. Das ist enorm. In solchen Fällen könnten Floating-Farmen Abhilfe schaffen."

Bis es so weit ist, wolle man parallel auch in den Niederlanden noch weiterforschen. In Den Bosch plant das Team ein schwimmendes Gewächshaus, und direkt neben dem Kuhstall werde man, sobald das behördliche Okay auf dem Tisch liegt, einen schwimmenden Hühnerstall mit rund 6000 Hennen errichten. "Nur die Schweine werden wir vorerst auslassen", sagt van Wingerden. "Die sind uns ethisch und religiös zu kontroversiell. Wir wollen mit unserer Floating Farm alle ansprechen." (Wojciech Czaja aus Rotterdam, 13.12.2020)