Johnson (Bild) suchte mit Macron und Merkel den "Nahkampf" im Brexit-Finale – vergeblich.
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Was macht ein EU-Ratspräsident als Gastgeber eines EU-Gipfels, wenn zwei verhaltensauffällige Regierungschefs den Ablauf und die geplanten Beschlussthemen des Gipfels ins Chaos stürzen wollen? Genau: Er lässt sie auflaufen, setzt ihre Anliegen zunächst gar nicht aufs Programm bzw. unter "ferner liefen".

Mit dieser Strategie ging Charles Michel das letzte Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs im Krisenjahr 2020 an. Seine "Problembären" – der britische Premier Boris Johnson und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán – sollten möglichst daran gehindert werden, sich selbst groß in Szene zu setzen und weitere Keile in die Gemeinschaft zu treiben. "Johnson kommt als Vertreter eines Drittstaates nach Brüssel, er hat beim Europäischen Rat nichts verloren", brachte es ein Diplomat am Mittwoch auf den Punkt.

Johnson, der Brite, stellte zuletzt weit überzogene Forderungen zum angepeilten Freihandelsvertrag nach dem Brexit. Er will, dass sein Land ab 2021 weiter Waren ohne Zölle im Binnenmarkt vertreiben kann, ohne die Produktionsstandards der EU anzuerkennen. Damit würde eine der "roten Linien" der EU-27 in Bezug auf fairen Wettbewerb weit überschritten (siehe Seite 6).

Viel Arbeit im Vorfeld

Und Orbán? Der Ungar droht im Verbund mit Polen seit Monaten mit Veto gegen das EU-Budget wegen der im EU-Ministerrat mit großer Mehrheit beschlossenen Regelung, dass EU-Subventionen bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit gekürzt werden können. Das kleine Ungarn ist in Bezug zur Bevölkerungszahl der größte Nettoempfänger von EU-Geldern: Fast sechs Milliarden Euro kommen jährlich aus dem regulären EU-Budget, aus dem Corona-Fonds bis 2024 noch einmal acht Milliarden.

Dem "lieben Viktor" und "Boris", aber auch der breiten Öffentlichkeit in Europa, sollte in Absprache mit den wichtigsten Staats- und Regierungschefs also demonstrativ vorgeführt werden, dass sich die Union nicht erpressen lässt.

Anders als zuletzt im November beim Corona-Gipfel findet das Treffen nicht nur per Video, sondern physisch statt. Nur im direkten Gespräch ließe sich die Fülle ungelöster Probleme, die zur Lösung anstehen, erfolgreich über die Bühne bringen, heißt es. Das reicht von ambitionierteren Klimaschutzzielen (minus 55 Prozent bis 2030) über die Corona-Koordination und die künftigen Außenbeziehungen zu den USA, Russland und zur Türkei bis hin zur Sicherheits- und Antiterrorstrategie.

"Nahkampf" im Brexit-Finale

Um das durchzusetzen, brauchte Michel eine enge Abstimmung mit zwei Spitzenfrauen: Ursula von der Leyen und Angela Merkel. Die eine hat es als EU-Kommissionspräsidentin übernommen, sich um Johnson zu kümmern. Dieser hätte lieber an den EU-27 vorbei mit Macron und Merkel den "Nahkampf" im Brexit-Finale gesucht. Vergeblich.

Die deutsche Kanzlerin sollte als aktuell amtierende EU-Ratspräsidentin noch vor Gipfelbeginn die Ungarn und die Polen in Sachen Rechtsstaatlichkeit zur Räson bringen, auf dass man sich ganz den aktuell brennenden Themen widmen könne. Tatsächlich gab sich Orbán nach einem Gespräch mit seinem polnischen Kollegen Mateusz Morawiecki für seine Verhältnisse fast streichelweich.

Johnson hingegen war Mittwochabend zu einem "Dinner for two" mit von der Leyen angesagt. Dabei sollten die politischen Scherben zusammengekehrt werden, die London mit der Infragestellung der Nordirland-Vereinbarung und dem Nicht-akzeptieren-Wollen der Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln verursacht hatte. Die Erwartungen waren im Vorfeld nicht sehr hoch. Aber "man wird jetzt auch kein endgültiges Scheitern verkünden, bis 31. Dezember ist noch viel Zeit", sagte ein Vertreter aus Ratskreisen.

Nordirland "frei von Zöllen"

Erste Details einer Einigung zu Nordirland wurden am Mittwoch vom britischen Staatssekretär Michael Gove im britischen Unterhaus verkündet: Die nordirischen Geschäften würden "frei von Zöllen sein", so Gove. Laut dem irischen Rundfunksender RTE soll die Befreiung von Zöllen für bis zu 98 Prozent der Waren gelten, die ab dem 1. Jänner von England, Schottland und Wales nach Nordirland transportiert werden. Die restlichen zwei Prozent würden wohl nur gelten, wenn Großbritannien und die EU kein Handelsabkommen zustande bringen würden

Von der Leyen und Johnson sollen aber festzurren, welche Punkte in den kommenden Tagen zu lösen sind. Entscheidende Fortschritte gab das Treffen erwartungsgemäß nicht. Es gebe immer noch "sehr große" Differenzen und es sei weiter unklar, ob sie überbrückt werden könnten, hieß es am Abend aus britischen Regierungskreisen. Eine Entscheidung über die Zukunft der Verhandlungen soll nun bis Sonntag fallen. Am Montag hatte Johnson noch versucht, mit Paris und Berlin bilateral zu verhandeln. Das wurde abgeblockt.

Vorfreude auf Biden

Bei so viel Arbeit im Vorfeld dürfte am ersten Gipfeltag daher der Fokus auf Klimaschutz und Corona-Maßnahmen gelegt werden. Beim Abendessen wird es vor allem um die Außenbeziehungen gehen – zu den USA, zur Türkei und zu Russland. Weitere Sanktionen gegen Ankara könnten im Verlauf des Gipfels beschlossen werden.

Umso herzlicher und engagierter werden die Erklärungen des EU-Gipfels zu den USA unter dem neuen Präsidenten Joe Biden ausfallen: Die EU will einen "Neustart", eine enge multilaterale Kooperation auf allen Gebieten.

Auch viereinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum beschwören dessen Gegner immer noch die Verbundenheit mit der Europäischen Union. (Thomas Mayer aus Brüssel, 9.12.2020)