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PRO: Lasset uns beten!

von Conrad Seidl

Glauben, sagt der Volksmund, heiße: nichts wissen. Das stimmt aber nicht, denn zumindest eines weiß man: Wem der Glaube an ein höheres Wesen, einen Allmächtigen, an einen großen Baumeister des Weltalls, oder wie immer sonst man Gott nennen mag, gegeben ist, der findet Kraft im Gebet. Das Gebet schafft den Gläubigen Ausgleich zum Tagesgeschäft, relativiert die Sorgen und erinnert an die eigene Unzulänglichkeit.

Alles Dinge, derer gerade Politiker und diese besonders in schwierigen Zeiten bedürfen. Dass jene Politiker, die heutzutage überhaupt noch die Hilfe Gottes suchen, vor allem römisch-katholische Christen sind, sollte in einem Land, in dem sich 56 Prozent der Bevölkerung zur römisch-katholischen Kirche bekennen, nicht verwundern.

Und es sollte auch niemanden ausschließen.

Das hat die Gebetsrunde, zu der Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und Bundesratspräsidentin Andrea Eder-Gitschthaler am "Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria" geladen haben, auch nicht getan. Wer dabei sein wollte, konnte dabei sein. Dass da auch Christen dabei waren, die neben ihrer Glaubensagenda ein paar fundamentalistische Ansätze mitbringen und diese nur allzu gerne in der Politik, speziell in der der ÖVP, verankern wollen, mag irritieren. Vielmehr aber sollte es Ansporn für die katholische Kirche sein, ihre Positionen klarzustellen. (Conrad Seidl, 9.12.2020)

KONTRA: Rote Linie überschritten

von Walter Müller

Wo Parlamentsabgeordnete ihren Glauben leben und zelebrieren wollen, ist eine Frage, die nur sie betrifft – sofern sie damit nicht das Gefüge zwischen Staat und Religion berühren. Wenn Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka zu einer Gebetsstunde ins österreichische Parlament einlädt und somit im Inneren der säkularen Demokratie einen Ort für Religionsausübung anbietet, reizt er genau diesen hochsensiblen Grenzbereich aus. Sobotka weiß, dass er eine rote Linie überschritt. Man darf ihm unterstellen, dass er damit bewusst provozieren wollte.

Wie schon beim denkwürdigen kollektiven Gebet der "Awake"-Bewegung für Sebastian Kurz in der Wiener Stadthalle öffnet die "neue, türkise ÖVP" den fundamentalistischen, erzreaktionären katholischen Kreisen weit ihre Türe – ganz im Sinne der christlichen "Fundis" im innersten Kreis des Kanzlers. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, wie der Verfassungsexperte Heinz Mayer kritisch anmerkt, dass erst kürzlich aus der ÖVP wieder eine Debatte um die Abtreibung angestoßen wurde. Mayer warnt daher berechtigt vor der schleichenden Gefahr eines politischen Katholizismus.

Diese Religionsstunde der ÖVP offenbart zudem einen fast schon unerträglichen Zynismus: Ausgerechnet jene, die sich brutal weigern, Kinder aus dem Flüchtlingslager in Moria aufzunehmen, rufen jetzt zu einer adventbesinnlichen Gebetsrunde ins österreichische Parlament. (Walter Müller, 9.12.2020)