Das Prozedere sieht vor, dass Skispringer nach einer längeren Pause wieder Jugendliche sein dürfen. Sie sollen weit springen, aber auf kleinen Schanzen, auf denen Nachwuchswettkämpfe ausgetragen werden. Schrittweise steigern sich die Wiedergenesenen, wechseln auf die Normalschanze, springen dann auf der Großschanze, in der Hoffnung, das Fluggefühl wiederzufinden.

Stefan Kraft bleibt keine Zeit für einen Zwischenschritt, er braucht gleich zu Beginn den richtigen Tritt. Wenn der zweifache Gesamtweltcup-Sieger am Donnerstag bei der Skiflug-Weltmeisterschaft in Planica sein Comeback nach überstandener Corona-Infektion gibt, muss er auf der Letalnica bratov Gorišek bestehen. Die Schanze in Nordslowenien ist eine der beiden größten der Welt. Nur die Anlage in Vikersund, Norwegen, hat dieselbe "Hillsize" von 240 Metern.

Markus Eisenbichler zählt bei der Skiflug-WM in Planica zu den Favoriten. Der Deutsche gewann zwei der bisherigen fünf Weltcup-Springen.
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"Kraft wird nervöser sein als manche andere Athleten", sagt Andreas Goldberger dem STANDARD. Der Oberösterreicher flog im März 2000 in Planica auf 225 Meter und hielt mit dieser Marke drei Jahre lang den Weltrekord. Er erinnert sich an seine Wettkämpfe auf Flugschanzen: "Alles ist größer, höher, weiter. Du schaust den Athleten, die vor dir dran sind, auf solch einem Monsterbakken nach, wie sie immer kleiner werden. Die Anspannung der Athleten ist spürbar." Der Skiflug-Weltmeister vom Kulm 1996 spricht von einer "Riesenherausforderung" für Kraft – und die restlichen ÖSV-Athleten.

Unlustiges Skifliegen

Im österreichischen Nationalteam häuften sich zuletzt die Corona-Infektionen, auch Cheftrainer Andreas Widhölzl war betroffen. Am Mittwoch nominierte er Kraft, Gregor Schlierenzauer, Michael Hayböck, Philipp Aschenwald sowie die wenig erfahrenen Clemens Leitner und Timon-Pascal Kahofer für die WM. Dem Team fehlt aber die Wettkampfpraxis. Ist das nicht gefährlich?

Goldberger sagt, dass die Sicherheit durch Windnetze und Präparierung von An- und Auslauf deutlich gestiegen sei, doch "bei Regen und böigem Wind ist das Skifliegen auch heute noch unlustig". Ein Fehler könne "wilde Folgen" haben.

Immerhin: Schlierenzauer, Hayböck und Aschenwald absolvierten am Dienstag Trainingssprünge auf Kleinschanzen, Kraft war dafür noch nicht bereit. Er muss erst einen Belastungstest bestehen: Übungen zur Reaktionszeit, Überprüfung der Schnellkraft unter Maximalbelastung – ein Nachweis, dass Kraft den hohen Kräften auf einer Flugschanze standhält.

"Beim Skifliegen musst du topfit sein. Du musst dich darauf freuen und darfst keine Angst haben", sagt Goldberger: "Ein paar lockere Trainingssprünge ohne Startnummer wären noch gut." Zumindest Kraft wird keine mehr bekommen.

Die sechs WM-Starter wurden am Mittwoch vom ÖSV negativ getestet, bei der Ankunft in Planica folgt ein weiterer Test. Im Training am frühen Donnerstagnachmittag erfolgt der Probelauf, für die Qualifikation muss Widhölzl die Mannschaft auf vier Springer reduzieren.

Andreas Goldberger weiß wovon er spricht.
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Vom Bett auf die Schanze

"Die Vorbereitung ist sicher nicht ideal, aber noch eine Woche warten, das hat auch keinen Sinn", sagt Kraft. Er möchte nicht länger zu Hause sitzen und die WM im Fernsehen verfolgen. "Dafür brenne ich zu sehr für meinen Sport und für das Skifliegen ganz besonders." Schlierenzauer, der bis dato letzte österreichische Einzel-Skiflugweltmeister (Oberstdorf 2008) sagt: "Es geht jetzt mehr oder weniger vom Bett direkt auf eine der größten Schanzen der Welt."

Die Österreicher zählen in Planica freilich nicht zu den Topkandidaten auf den Titel. Goldberger nennt Markus Eisenbichler und Robert Johannson als "heiße Favoriten". Beide haben einen "aggressiven und mutigen" Sprungstil, weil ihnen auf dem Schanzentisch die Geschwindigkeit wichtiger ist als die Absprunghöhe. Sie erreichen ihre Weite mit einer flacheren Flugkurve, was auf großen Schanzen wie jener in Planica von Vorteil sei.

Den Schanzenrekord hält Ryoyu Kobayashi mit 252 Metern. Er liegt nur eineinhalb Meter hinter dem Weltrekord von Kraft, den der Salzburger 2017 in Vikersund aufstellte. Goldberger glaubt, dass die Marke nicht überflogen wird. "Die Startzeiten sind auf 16 Uhr angesetzt, abends ist die Thermik meistens weg. Nur mit der richtigen Windströmung wäre es möglich." In der Einzelkonkurrenz sind vier Durchgänge vorgesehen, jeweils zwei am Freitag und Samstag. Am Sonntag folgt die Medaillenvergabe im Team in zwei Durchgängen. (Lukas Zahrer, APA, 9.12.2020)