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Einen Berg zu besteigen, ohne Wanderschuhe anziehen zu müssen: Das klingt nach einer reizvollen Alternative zu Binge Watching.

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"Schön, dass du da bist!" Erst glaube ich, mich verhört zu haben. Ich liege rücklings auf dem Sofa, unter dem Kopf ein Polster, eine Frauenstimme säuselt mir ins Ohr. Sie meint es gut mit mir. "Schön, dass du da bist." Wann habe ich das zum letzten Mal gehört?

Der Einstieg in meine erste Podcast-Meditation scheint geglückt, bei aller Skepsis. Ich will nämlich Entspannung, und zwar jetzt! Dass ich das so ausspreche, will was heißen. Normalerweise bin ich raus, bevor meinem Gegenüber das Wort Achtsamkeit über die Lippen gegangen ist. "Sich was Gutes tun", "in sich hineinhören", "der Stille gewahr werden", "den Moment leben", schon die Formulierungen bereiten mir Magenschmerzen.

Entspannung fällt mir schwer; um alles, was Ruhe verspricht, habe ich bislang einen Bogen gemacht. Genau einen Yoga-Kurs habe ich in meinem Leben besucht, ein Ommm habe ich noch nie über die Lippen gebracht. Wenn ich nachdenke, komme ich auf zwei Thermenaufenthalte in den letzten Jahren, Massagen? Kenne ich nur vom Hörensagen.

Einschlägige Magazine, die das Abschalten zelebrieren und Ma vie, Happinez oder Flow heißen, habe ich bislang links liegen gelassen. "Mindfulness" ist bislang die große Unbekannte in meinem Leben. Echte Stille? Ich erinnere mich kaum.

Einfach nur mal sein

Das soll sich nun ändern, auch wenn ich spät dran bin mit dieser Erkenntnis. Über ein halbes Jahrzehnt, nachdem das Time Magazine die "Mindful Revolution" ausgerufen hat, will ich mich in achtsamem Tun üben, zur Ruhe kommen, einfach nur mal sein. Und das, ohne einen Schweigekurs oder ein Stille-Seminar zu belegen.

Der Grund: Mir brummt der Schädel. Ich bin unausgeglichen, genervt von der Corona-Situation, aber auch von der Hatz nach Neuigkeiten und dem Leben der anderen. Ständig ist da dieses Hintergrundrauschen, der nicht endende Nachrichtenstrom.

Wenn ich nachts aufwache und nicht mehr einschlafen kann, klebt meine Hand einen Augenaufschlag später am Smartphone, morgens um drei wische ich mich durch Instagram-Stories, auch beim Aufstehen gilt der erste Blick dem Handy: Was heute wohl auf Twitter wieder los ist?

A-Wort im Ausverkauf

Das alles soll jetzt einen Abend einfach einmal keine Rolle spielen. Zur Abwechslung mache ich die Beine lang und beschäftige mich mit mir selbst, so wie mir das auf Instagram täglich empfohlen wird: Acht-sam-keit ist zu einer Religion der Lifestyle-Welt geworden. Wer in sich hineinhorcht, tut das nicht mehr nur für sich unter der Wolldecke. Die innere Einkehr wird öffentlich gemacht, alle sollen sehen, dass ich gläubig bin.

1,1 Millionen Mal wurden auf Instagram Bilder mit dem Hashtag #achtsamkeit versehen, mehr als 23 Millionen Mal mit #mindfulness, unter #silence wurden 6,8 Millionen Bilder abgelegt. Dass das A-Wort dem Ausverkauf nahe ist, lässt sich auf der Social-Media-Plattform beobachten, es wird für so ziemlich alles, von der Müslischüssel bis zum Sonnenuntergangsfoto, verwendet.

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Innerlich den Berg besteigen – mit Hilfe eines Podcasts
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Den Berg besteigen

Ich suche mir Hilfe bei der inneren Einkehr, absurderweise auf meinem Handy. Zum Einstieg versuche ich es mit einem Podcast, der eine 15-minütige "Bergmeditation" verspricht. Einen Berg zu besteigen, ohne Wanderschuhe anziehen zu müssen: Das klingt nach einer reizvollen Alternative zu Binge Watching. Mal sehen, ob ich den Aufstieg schaffe und da oben auf dem Gipfel meine Ruhe habe.

Die Aufforderung, es mir im Schneidersitz bequem zu machen, überhöre ich. Jetzt soll ich mir vor meinem Inneren einen Berg vorstellen. Wie gut, dass ich das Handy abgedreht habe und der Laptop nicht in Reichweite steht. Sonst hätte ich noch schnell zur Inspiration in der Google-Bildersuche "Dachstein" eingegeben.

Während mir die Stimme ins Ohr flötet, der Berg stehe für Stärke und Beständigkeit, muss ich an den Zahnarzttermin nächste Woche denken. Ob es mir gelingen wird, auch mit geöffnetem Mund die innere Ruhe auszupacken? Bevor meine Gedanken von dem gemeinen Surren des Zahnarztbohrers gestört werden, dämmere ich am Fuß des Berges vor mich hin. Und jetzt: Augen öffnen.

Angefixt und hochmotiviert

Die Frau schließt mit einem versöhnlichen "Ich hoffe, die Meditation hat dir gutgetan". Das hat sie, durchaus. Ich bin angefixt und hochmotiviert. So wie ich mich sonst auf den Social-Media-Plattformen verliere, will ich nun mehr, mehr, mehr Meditation. Eigentlich verrückt, dass ich zur inneren Einkehr ein elektronisches Hilfsmittel brauche. Jogginghose, Meditationsdecke, Räuchergefäße, alles überschätzt: Ohne Handy, Laptop und funktionierendes WLAN bin ich aufgeschmissen.

Ich will zur mir kommen und hänge gleichzeitig am Tropf. Um mir Meditationsanleitungen anzulesen, bin ich zu ungeduldig. Einschlägige Literatur wie "Stille für Frauen. Ein Wegweiser zu Kraft und innerer Ruhe" stößt mich ab. Wenn mich das Netz etwas gelehrt hat, dann, dass sogar die Tiefenentspannung mit wenigen Klicks zu haben ist.

Unendliche Auswahl

Was für ein Glück, dass das Internet heute nicht ausfällt. Ich begebe mich weiter auf die Suche. Die erste Hürde ist die unendliche Auswahl. Es gibt im Internet so viele Meditationsübungen, wie es Achtsamkeitsjünger gibt. Podcasts, die Mindfulness versprechen, erst recht: Sie heißen The Mindful Sessions, The Mindful Mess oder Happy, Holy & Confident.

Letzterer bietet eine "Gehmeditation für Selbstliebe" an. Das könnte was für mich sein. Ich vertrete mir während der Corona-Zeit am Abend gern die Beine. Ich könnte die Zeit nutzen, mithilfe einer Meditation zur Ruhe zu kommen. Auf der Straße setze ich mir die Kopfhörer auf. Wieder werde ich von einer Frauenstimme begrüßt: "Schön, dass ...", ach, das kenne ich ja schon.

Bevor ich mich zum Spaziergang durch das Grätzel aufmache, soll ich entscheiden, ob ich "für Frieden, für Freude oder fürs Loslassen" laufe. Irgendwie scheine ich zu viele Nachrichten konsumiert zu haben. Das Wording erinnert mich an die Parolen der "Querdenker", die ihre maskenfreien "Feste für Freiheit und Frieden" auf den Straßen feiern. Ich hingegen denke beim Lauf über den Asphalt nur: "Hoffentlich stört jetzt niemand meine Gehmeditation."

Die Füße auf dem Boden spüren

Während ich normalerweise abends draußen noch einmal den Tag an mir vorbeilaufen lasse, erklärt mir jetzt die sanfte Stimme im Ohr, ich solle meine Füße auf dem Erdboden spüren, sie schiebt nach: "Du bist Wasser, du bist Erde, du bist Feuer, du bist Luft." Das ist zu viel des Guten. Ich setze die Hörer ab.

Während ich durch die kalte klare Luft laufe, bin ich endlich da, wohin ich mich die ganze Zeit wünsche. Ich bin allein, kaum ein Mensch ist auf der Straße, ich atme ein und aus und ein und aus, ohne dass ich eine Anleitung aus dem Kopfhörer dafür bräuchte. Friedliche Stille, nur hinter den hellerleuchteten Fenstern ist Leben.

Ließen sich diese Momente einfrieren und bei Bedarf wieder auftauen? Bewirkt nächtliches Spazierengehen etwa mehr als betörende Meditationen? Bin ich vielleicht doch unabhängiger von der Technik, als ich das eigentlich dachte?

Bedürfnisse des kleinen Zehs

Ich mag das Experiment noch nicht für gescheitert erklären. Einer Online-Meditation will ich noch eine Chance geben, bei der nächsten Reise nach innen will ich sogar auf die Bedürfnisse des kleinen Zehs wie des dicken Daumens achtgeben. Ich wende dazu einen Klassiker an, den "MBSR-Bodyscan", der "achtsamkeitsbasierte Stressreduktion" verspricht.

Er wurde in den Siebzigerjahren von dem amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt. Ich werde es mit einer halbstündigen Anleitung auf Youtube versuchen. Es geht sachlich und ohne musikalische Begleitung los, allein das empfinde ich als Wohltat.

Ich soll die Fußsohle, die Ferse, den ganzen rechten Fuß fühlen. "Vielleicht kannst du versuchen, etwas von der Zentriertheit und Wachheit mit in den Alltag zu nehmen", heißt es zum Schluss. (Anne Feldkamp, RONDO exklusiv, 5.1.2021)