Foto: Polarise

Willkommen auf dem Server gruft07 von e-tot.de. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Tod. Jetzt ist es also passiert: Paul ist offenbar gestorben – vom Balkon gestürzt, wie ihm sein Tutorial im Jenseits erklärt. Immerhin kann man in der Romanwelt von "e-tot" aber sein Bewusstsein einscannen lassen und für diese digitale Kopie ein virtuelles Nachleben abonnieren; ob für Jahre oder Jahrtausende, hängt nur vom Preis ab. Und damit stürzen wir uns mitten hinein in ein Szenario, das in der SF im Prinzip nichts Neues ist. Dem Uwe Post aber eine bemerkenswerte Bandbreite an neuen Facetten abgewonnen hat, von schreiend komisch bis bitterböse.

Banalität mit Besonderheiten

Die erste dieser Facetten lautet (und das ist jetzt absolut positiv gemeint): totale Banalität. So wurde das Jenseits noch nicht dargestellt. Paul "lebt" nun in der virtuellen Entsprechung einer deutschen Kleinstadt, kocht sich daheim Miracoli, kickt zusammen mit anderen toten Amateurfußballern für den FC Südfriedhof und fährt mit einem Bus, in dem die Mitglieder eines Kegelclubs Eierlikör um die Wette trinken; Post hat wirklich ein Händchen dafür, Spießigkeit auf die Spitze zu treiben. Nichtsdestotrotz wird Paul laufend daran erinnert, dass es nicht das echte Leben ist. Dafür reicht schon ein Blick nach unten: So realistisch sein Avatar sonst auch sein mag – statt eines Penis hat er nur einen züchtigen schwarzen Balken.

Pauls Fußballkumpel Leo erlebt dasselbe Ambiente deutlich anders: Dass er nach einem Leben ohne Perspektive seine Organe verkauft hat, hat ihm 10.000 Jahre E-Tod auf einem Luxusserver eingebracht – viel detailschärfer und Feature-reicher als die pixelige Wahrnehmung Pauls, der über einen Billigserver läuft. Und noch jede Menge andere Faktoren führen uns und den Protagonisten immer wieder vor Augen, dass sie ein merkwürdiger Hybrid aus Mensch und Softwarekonstrukt sind. Sie können sich Trojaner einfangen, müssen gelegentlich einen Reset über sich ergehen lassen oder werden Opfer von Troll-Attacken. Manche Lebende betrachten das digitale Jenseits sogar als geiles Videospiel und schicken ihre Avatare auf "Zombie-Jagd".

Eine Reihe von Nebenfiguren bereichert das insgesamt gut durchdachte Szenario um weitere Aspekte. So leben Nele und ihr Sohn Steven in einem Haushalt, in dem der e-tote Vater immer noch präsent ist. Dass Tom mit seiner Familie via Lautsprecher interagiert, als wäre alles ganz normal, stößt auf eher gemischtes Feedback: "Er ist dein Vater!" – "Er ist elf Terabyte!" Die 97-jährige Elisabeth wiederum verbringt ihre letzten Tage in einem Hospiz (böse: "zum Vordereingang rein, durch die Glasfaserleitung wieder raus"). Als sie dann im digitalen Jenseits angekommen ist, muss sie feststellen, dass sie auch hier nicht von ihren Lieben besucht wird – sie schicken ihr stattdessen einen Gruß-Bot vorbei.

Der Tod ist kein Entkommen vor dem Kapitalismus

All die persönlichen Aspekte würden für sich schon einen guten Roman ergeben. Doch während sich nach und nach das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Figuren herausschält, tauchen langsam auch die Konturen von etwas anderem aus dem Dunkel auf. Und die ergeben ein wesentlich hässlicheres Bild. "e-tot" ist ein beinhart kapitalismuskritischer Roman. Das kommt nicht ganz überraschend: Schon im 2009 veröffentlichten "Symbiose", das mich seinerzeit für Post eingenommen hat, wurde die Waren- und Konsumwelt auf grellste Weise persifliert. In "e-tot" setzt sich das mit einem Strudel an grotesken Werbeeinblendungen für Jenseits-Features nahtlos fort ("Endlich auch auf diesem Server: digitale Kopfschmerzen gratis und steuerfrei! Damit sie endlich wieder einen Grund zum Nörgeln haben. Erhältlich in den Varianten Ziehen, Pochen und Migräne. Auch im Abo."). All die Gags, Wortspiele und skurrilen Einfälle können aber nicht darüber hinwegtäuschen, was für ein Ausbeutungssystem sich hier vor unseren Augen entfaltet.

Werkverträge können hier über den Tod hinausreichen, immerhin gibt's auch im Jenseits Ausgaben. Und warum noch teure Inder im Call-Center beschäftigen, wenn E-Tote das viel billiger machen müssen? So hangelt sich Paul von einem öden Job zum nächsten, löscht Postings oder faket Fünf-Sterne-Bewertungen – und ist damit sogar noch recht gut dran. Verglichen etwa mit dem Castingshow-Sternchen Saphira, dessen Avatar zu buchstäblich jenseitiger Prostitution gezwungen wird. Oder dem Soldaten David, der als Toter Drohnen gegen lebende Ziele in den Einsatz steuert. Alle Toten werden hier gnadenlos weiterverwertet: "Letztlich müssen sich posthumanistische Konzepte knallhartem Kalkül von gewinnorientierten Wirtschaftsunternehmen unterordnen." Das hehre SF-Motiv von der virtuellen Unsterblichkeit ist auf seinem Tiefpunkt angelangt.

Das Puzzle verbindet sich

Und als wäre das noch nicht genug, lässt jeder kurze Einblick ins System den Roman ein Stückchen weiter in Richtung Thriller drehen. Ist es ein Zufall, dass Paul just dann einem "Recovery Reboot" unterzogen werden musste, nachdem er ein paar politische Online-Petitionen unterzeichnet hat? Ist Neles Mann wirklich an einem Unfall gestorben? Was sind das eigentlich für Kriege, in denen David da kämpft? Und was steckt hinter der ominösen Social-Media-Instanz #WAHRHEIT, die der Welt erklärt, was, nun ja, eben die Wahrheit sei? Es ist fast schon ein bisschen zu viel des Guten, wie sauber Post am Ende all die unterschiedlichen Fäden zusammenbringt. Aber gut, soll einem nichts Schlimmeres unterkommen als ein Autor, der sich eine Konstruktion überlegt hat.

Irgendwann ist mir während der Lektüre scheinbar unmotiviert John Brunners "Stand on Zanzibar" ("Morgenwelt") in den Sinn gekommen. Aber so zufällig war das bei genauerer Betrachtung gar nicht. Auch "e-tot" ist ein Mosaikroman, der mit großem Personal ein breites Panorama der Zukunft entwirft – und damit Posts Entsprechung zu "Zanzibar" innerhalb seines Schaffens. Es ist sein bislang vielleicht bester Roman und dürfte im Rennen um den nächsten Kurd-Laßwitz-Preis ein Wörtchen mitzureden haben.

P.S.: Eine lobende Erwähnung verdient auch noch, dass Post so ganz nebenbei das vollkommen Unmögliche geschafft hat: Er hat eine Vuvuzela positiv besetzt!