Unlängst las ich zu meiner Überraschung einen äußerst positiven Beitrag des konservativen Wirtschaftswissenschafters Hans-Werner Sinn über türkische Migranten. Der Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen" war mit "Ein bewundernswerter Erfolg für unsere türkischen Immigranten" übertitelt. Im Konkreten ging es um die Gründer und Chefs der Firma Biontech, Uğur Şahin und Özlem Türeci. Ihnen verdanken wir die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus. "Der Erfolg von Şahin und Türeci könnte den Wiederaufstieg der deutschen Pharmaindustrie einleiten ... Er beweist auch, welche Vorteile eine alternde Gesellschaft wie die deutsche durch die Immigration erzielen kann."

Zuwanderung als Chance?

Sicher sind Biontech und die Entwicklung eines dringend benötigten Impfstoffs ein Sonderfall. Aber die alternde deutsche sowie österreichische Bevölkerung profitiert in vielfältiger Weise von der türkischen und vielen anderen Einwanderungen. Ob es sich um die institutionelle oder familiäre Pflege alter Menschen oder die Reinigung unserer Pflegeheime und Spitäler handelt oder um den Nahrungsmittelhandel sowie die Reparatur von Schuhen und das Ändern und Ausbessern von Kleidung, in vielen Fällen helfen uns die zugewanderten Menschen aus der EU beziehungsweise darüber hinaus. Vor allem die zweite und dritte Generation leistet viel für die neue Heimat.

Sie helfen, unser Wohlfahrtssystem aufrechtzuerhalten, und sind keineswegs Schmarotzer, wie dies immer wieder unterstellt wird. Und unsere Gesellschaften schaffen sich durch Einwanderung auch nicht ab, wie dies für Deutschland einst der frühere SPD-Politiker und Provokateur Thilo Sarrazin behauptet hat. Im Gegenteil, ohne sie würden viele Leistungen nicht erbracht werden können. Gerade in Zeiten der Pandemie helfen sie uns, das Gesundheitssystem am Laufen zu halten. Aber Anerkennung bekommen sie kaum. Sie werden eher beschuldigt, durch Besuche in ihrer ursprünglichen Heimat erneut das Virus einzuschleppen.

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Ohne Zuwanderung könnten viele Leistungen im Land nicht erbracht werden.
Foto: AP Photo/Ronald Zak

Kann man Österreicher, Türke und Kurde sein?

Dabei müssen beide Seiten, die Einwanderinnen und Einwanderer wie auch die Aufnahmegesellschaft, mehr tun, um die Integration zu einem durchgängigen Erfolg werden zu lassen. Das erfordert sicher, dass die Menschen, die bei uns leben und arbeiten, manchen Streit und Konflikt aus ihrer Heimat "zu Hause" lassen. In Österreich betrifft das insbesondere den Kurdenkonflikt innerhalb der Türkei. Man kann mit Recht behaupten, dass die Kurden – ähnlich wie die Palästinenser – ein Volk sind, dem die Souveränität und Selbstständigkeit nicht gegönnt wurde und wird. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Vertrag von Sèvres ein unabhängiger kurdischer Staat angedacht. Doch der verschwand wieder im Vertrag von Lausanne von 1923, der den Sèvres-Vertrag ersetzte. Die Tatsache, dass die Kurden auf vier Länder aufgeteilt sind, nämlich die Türkei, den Irak, den Iran und Syrien, macht die Frage eines selbstständigen Staates nicht leichter.

Der Nationalismus, den der Gründer der neuen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), bewusst dem osmanischen Vielvölkerstaat gegenübergestellt hatte, kannte nur mehr Türken. Ausdruck dieses Nationalismus ist es, wenn Schüler jeden Tag vor Schulbeginn rufen müssen: "Ich bin stolz, ein Türke zu sein!" Groteskerweise war es gerade Erdoğan, der zu Beginn seiner Amtszeit als Ministerpräsident das Gespräch mit den kurdischen Vertretern suchte. Ob das aus Taktik heraus geschah oder aus Überzeugung, ist schwer auszumachen. Tatsache ist, dass er sich später von ihnen abwandte, viele gewählte kurdische Politikerinnen und Politiker der HDP ins Gefängnis steckte – wo sie sich noch immer befinden – und sich den extremen Nationalisten zuwandte. Jetzt munkelt man sogar, dass er die HDP möglicherweise verbieten möchte, um bei der nächsten Wahl wieder eine absolute Mehrheit zu erringen.

Stolz berichtete er immer wieder – auch in Gesprächen mir gegenüber –, dass ohnedies die Mehrheit der Kurden die von ihm geführte AKP wähle. Erdoğan unterhielt auch gute Beziehungen zum Chef der kurdischen Regionalregierung im Irak, Masoud Barzanî, bis dieser ein Referendum zur staatlichen Unabhängigkeit abhalten ließ. Dieses bewirkte übrigens den Sturz Mustafa Barzanîs, und erst ein anderer aus dem Barzani-Clan, Nêçîrvan Barzanî, konnte das Verhältnis zum Irak und der Türkei wieder normalisieren.

Spannungen entladen

Für die politisch denkenden und handelnden Kurden aus der Türkei ergab sich angesichts der Kehrtwendung von Erdoğan erneut die Schwierigkeit, ob sie sich primär als Kurden oder als Türken fühlen sollten. Bei all meinen Besuchen in den kurdischen Gebieten, insbesondere in der kurdischen "Hauptstadt" Diyarbakır traf ich einerseits Menschen, die mich in "Kurdistan" begrüßten und damit die Hoffnung auf ein selbstständiges Land ausdrückten. Anderseits traf ich viele, die betonten, innerhalb der Türkei mehr kulturelle und sprachliche Rechte durchsetzen zu wollen.

Allerdings konnte ich in vielen Gesprächen mit nationalen oder lokalen kurdischen Politikerinnen und Politikern niemanden überzeugen, sich klar von der Widerstandsbewegung PKK und deren Chef Abdullah Öcalan zu distanzieren. Auch wenn sie terroristische Aktionen ablehnten, unterwarfen sie sich bis zu einem bestimmten Grad der politischen Autorität des Chefs der PKK, wenn dieser auch seit 1999 im Gefängnis sitzt. Diese emotional verständliche, aber politisch zumindest naive Haltung kommt auch bei Demonstrationen in Wien zum Ausdruck, wenn Bilder von Öcalan mitgetragen werden. Einige extrem nationalistisch-"türkische" Türken glauben im Gegenzug, sie müssten sich mit Gewalt dagegen wehren. Aber weder ist dieser Konflikt mit Gewalt zu lösen, noch sollte er in Österreich ausgetragen werden. So sollten die vier im Wiener Gemeinderat sitzenden "türkischstämmigen" Abgeordneten – der STANDARD berichtete darüber – und die vielen Bezirksräte und Bezirksrätinnen mithelfen, diese Spannungen zu überwinden. Und das unabhängig davon, ob sie sich der türkischen oder der kurdischen Volksgruppe verbunden fühlen.

Notwendiger Dialog

Notwendig wäre es, in der Türkei den Dialog wiederaufzunehmen und eine politische Lösung anzustreben. Da müsste jedoch Präsident Erdoğan wieder eine Kehrtwendung machen. Allerdings müssten auch die revolutionären Vorstellungen mancher PKK-Kämpfer durch eine realistische Perspektive ersetzt werden. Als Präsident Trump die Kurden in Syrien, die mitgeholfen hatten, den IS zu bekämpfen, "fallengelassen" und sie der türkischen Armee ausgeliefert hat, war das der jüngste Beweis, dass mit einer Anerkennung eines kurdischen Staates nicht zu rechnen ist. Und die derzeitige österreichische Außenpolitik beschränkt sich ohnedies bloß auf ein Erdoğan-Bashing.

Eine emotionale Bindung an die Heimat und an die Volksgruppe, aus der man kommt, ist vertretbar, verständlich und nachvollziehbar. Auch in Österreich sind wir stolz auf erfolgreiche Auslandsösterreicherinnen und Auslandsösterreicher und hoffen, dass auch sie sich zu "uns" bekennen, sogar wenn sie aus Österreich vertrieben wurden. Aber die neue Heimat sollte im Vordergrund stehen, diese sollte sich aber auch um diese Menschen bemühen, gerade weil sie zu unserem gemeinsamen Wohle beitragen. Die gegenwärtige Corona-Krise und die Hilfsbereitschaft von Menschen mit Migrationshintergrund in Pflegeberufen verdeutlichen dies. Man muss seine kurdische/türkische Herkunft nicht verleugnen, um ein erfolgreicher, hilfsbereiter Österreicher beziehungsweise eine ebensolche Österreicherin zu sein. (Hannes Swoboda, 16.12.2020)