Die Masken, die Boris Johnson gerne noch aufbehalten würde, sollen in den Verhandlungen der kommenden Tage endlich fallen. Die EU übt Druck auf die Briten aus – nun hat sie auch ihren Plan für ein Scheitern der Gespräche vorgestellt.

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London/Brüssel – Die Europäische Union stellt den Briten die Rute ins Fenster. Mit Blick auf die laufenden Verhandlungen mit London rüstet sich die Union für ein Scheitern der Verhandlungen über den Brexit-Handelspakt, um das befürchtete Chaos zur Jahreswende abzumildern – und stellte diese am Donnerstag auch öffentlichkeitswirksam vor. Es geht unter anderem darum, Flug- und Straßenverkehr sowie die Fischerei aufrechtzuerhalten, wie die Brüsseler Behörde am Donnerstag mitteilte.

"Die Verhandlungen laufen noch, aber das Ende der Übergangsfrist ist nahe", schrieb Kommissionschefin Ursula von der Leyen auf Twitter. Es gebe keine Garantie für einen Vertrag. "Wir müssen vorbereitet sein – auch darauf, dass am 1. Jänner kein Vertrag in Kraft ist."

Ein paar Flüge am Tag sollen bleiben

Die Notmaßnahmen für diesen Fall enthalten einen Vorschlag, um bestimmte Flugverbindungen zwischen Großbritannien und der EU für sechs Monate aufrechtzuerhalten – basierend auf Gegenseitigkeit mit Großbritannien. Auch für die Anerkennung von Sicherheitszertifikaten für Flugzeuge soll es eine Übergangsregel geben, damit diese nicht in der EU stillgelegt werden müssen.

Eine ähnliche Regelung auf Gegenseitigkeit soll es geben, um Frachttransporte und Passagierverkehr aufrechtzuerhalten, ebenfalls für sechs Monate.

Notmaßnahmen verzögert

Für das politisch sehr umstrittene Thema Fischerei schlägt die EU-Kommission einen Rechtsrahmen vor, der bis 31. Dezember 2021 gelten soll – oder bis zu einem Fischereiabkommen mit Großbritannien. Diese Vereinbarung soll den Zugang von britischen Fischkuttern in EU-Gewässer regeln und umgekehrt. Die Kommission werde eng mit dem Europaparlament und dem Ministerrat zusammenarbeiten, um die Regelungen noch vor dem 1. Jänner 2021 in Kraft zu setzen.

Mehrere EU-Staaten hatten die Kommission immer wieder gedrängt, diese Notfallmaßnahmen voranzutreiben. Die Kommission hatte dies hinausgezögert. Jetzt begründete sie den Vorstoß mit der großen Unsicherheit, ob bis 1. Jänner ein Handelsabkommen in Kraft ist, das diese Maßnahmen unnötig machen würde.

Wettanbieter sehen "No Deal" als wahrscheinlich

Von der Leyen hatte am Mittwochabend bei einem dreistündigen Gespräch mit Premier Boris Johnson keinen erkennbaren Fortschritt erzielt. Das Gespräch sei lang und gut gewesen, sagte von der Leyen am Donnerstag vor Beginn des EU-Gipfels in Brüssel. Aber: "Es ist schwierig." Am 31. Dezember endet die Brexit-Übergangsfrist, und Großbritannien scheidet aus dem Binnenmarkt und der Zollunion aus. Mehrere britische Wettanbieter sehen mittlerweile eine mehr als 50-prozentige Chance für einen "No Deal".

Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, sagte bei seinem Eintreffen zum Gipfel in Brüssel am Donnerstag, der Brexit sei nicht das wichtigste Thema auf der Agenda: "Die Verhandlungen dauern noch an." Man erwarte neue Informationen vonseiten der EU-Kommission und werde den Brexit nicht allzu lange diskutieren, so Michel.

Kurz rechnet mit Einigung

Trotz der bestehenden Differenzen rechnet Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) noch mit einem Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien. "Es gibt noch einige offene Fragen, aber ich glaube, dass Ursula von der Leyen und Boris Johnson in der Lage sein werden, diese letzten offenen Punkte zu lösen", sagte Kurz in einem Interview mit dem amerikanischen Sender CNN. "Ich glaube nicht, dass das Vereinigte Königreich und Boris Johnson wirklich ein No-Deal-Szenario wollen."

Kurz verteidigte in dem Interview vor dem beginnenden EU-Gipfel am Donnerstag aber die harte Haltung der EU, die auf fairen Wettbewerbsbedingungen besteht, auch was künftige EU-Regulierungen betrifft, die Großbritannien akzeptieren müsste, um weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt zu haben. Aus der Sicht der EU sei der britische Wunsch, künftige Regulierungen nicht nachzuvollziehen, nicht akzeptabel. (APA, red, Reuters, 10.12.2020)