In Großbritannien finden sich manche noch nicht ganz mit der Tatsache ab, dass das Vereinigte Königreich nicht mehr Mitglied der EU ist.

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Die besten Beschreibungen des aktuellen Stands in den Brexit-Verhandlungen kamen aus Dublin. Nach dem ergebnislos verlaufenen Brüsseler Treffen zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Premierminister Boris Johnson am Mittwochabend griff ein irisches Regierungsmitglied zu einem Covid-Vergleich: Die Gespräche seien "noch nicht tot, aber ans Beatmungsgerät" angeschlossen.

Weniger drastisch, aber ähnlich pessimistisch sagte Irlands Regierungschef Micheál Martin für das Ende der britischen Übergangsperiode zu Silvester chaotische Verhältnisse voraus: "Wir stehen auf der Klippe zum No Deal."

Enttäuscht sahen sich jene, die das Abendessen aus Kürbissuppe mit Muscheln und gedünstetem Steinbutt mit Kartoffelbrei für den Höhepunkt jener großangelegten Choreografie hielten, die zum Ende der Übergangsperiode zu Silvester eine Vereinbarung über die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit möglich machen würde. Stattdessen wirkte der Fischmix eher wie der Countdown zur Trennung ohne Vertrag. Prompt fiel das Pfund an der Londoner Börse gegenüber dem Euro um ein Prozent – wohl Vorbote größerer Turbulenzen, noch halten Währungshändler einen Deal für wahrscheinlicher.

Angst vor Engpässen

Welche Folgen der No Deal haben würde, sickert drei Wochen vor dem endgültigen Ausscheiden Großbritanniens aus der EU-Einflusszone erst langsam ins Bewusstsein der britischen Öffentlichkeit. Allein auf Chemieunternehmen kommen zusätzliche Bürokratiekosten von 1,6 Milliarden Euro zu, schätzt ein Branchenkenner. Kunden in Paris oder Düsseldorf zeigen sich schon jetzt britischen Produkten gegenüber abgeneigt, weil sie Lieferschwierigkeiten befürchten, berichtet ein Hersteller luxuriöser Betten.

Auf Meeresfrüchte wie die in Brüssel servierten schmackhaften Muscheln erhebt die EU künftig Zölle und Abgaben von 20 Prozent, auf britisches Lamm sogar 50 Prozent. Nahrungsmittel würden "zwischen drei und fünf Prozent teurer" werden, prognostiziert John Allan, Chairman des Einzelhandelsgiganten Tesco.

Letztere Zahl hielt ein BBC-Interviewer am Donnerstag dem Vizepremier und Außenminister Dominic Raab vor. Er "erkenne die Zahl nicht wieder", teilte der Brexit-Hardliner mit, ohne eine Alternative zu nennen. Es ist derselbe Politiker, der in seiner kurzen Amtszeit als Brexit-Minister 2018 die Erkenntnis gewann, dass rund ein Drittel der lebenswichtigen Importe auf die Insel das Nadelöhr Calais/Dover durchläuft – "das war mir vorher nicht so klar gewesen".

Schädlicher als Covid

Vieles ist den Brexiteers nicht klar, oder sie verschließen bewusst die Augen vor unbequemen Fakten. Mittel- und langfristig, hat der nüchterne Zentralbankgouverneur Andrew Bailey kürzlich mitgeteilt, werde der Brexit selbst mit einem dünnen Handelsvertrag "größeren Schaden" anrichten als die Covid-Pandemie.

Wegen Corona bricht die Volkswirtschaft in diesem Jahr der Prognose der Budgetbehörde OBR zufolge um 11,3 Prozent ein, der stärkste Rückgang aller halbwegs vergleichbaren G7-Nationen. Aber Johnson wiederholte vor dem Brüsseler Dinner im britischen Unterhaus einen seiner zentralen Lieblingssätze: Das Vereinigte Königreich werde außerhalb der Europäischen Union "prächtig florieren", ob mit oder ohne Vereinbarung.

Londoner Begehrlichkeiten

Mit dem Auftritt am Mittwoch habe es sich der Premier "sehr, sehr schwer" gemacht, die nötigen Kompromisse durchzusetzen, lautet die Analyse eines Veteranen von vier Tory-Regierungen, des 80-jährigen Lord Kenneth Clarke. Offenbar wiegt die Furcht vor den Brexit-Ultras in den eigenen Reihen schwerer als der Handlungsspielraum, den Johnson innenpolitisch gewonnen hat. Denn in derselben Sitzung bestätigte Labour-Oppositionsführer Keir Starmer, seine Partei werde dem Handelsvertrag mit der Europäischen Union zustimmen – wenn er denn zustande kommt. Danach aber sah es drei Tage vor dem Ablauf der neuesten Frist am Sonntag nicht aus. (Sebastian Borger aus London, 10.12.2020)