Brüssel – Nach einem Durchbruch im Haushaltsstreit und mehr als 21-stündigen Verhandlungen hat die EU ihr Klimaziel für 2030 deutlich verschärft: Um mindestens 55 Prozent soll der Ausstoß von Treibhausgasen unter den Wert von 1990 sinken, beschloss der EU-Gipfel Freitagfrüh nach langem Ringen. Ratschef Charles Michel teilte daraufhin mit: "Europa ist im Kampf gegen den Klimawandel führend."

"Dafür hat es sich auch gelohnt, eine Nacht nicht zu schlafen", sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron für das neue 55-Prozent-Ziel geworben hatte. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der am Verhandlungsmarathon in Brüssel teilgenommen hatte, sagte: "Ich bin froh, dass es uns nun fünf Jahre nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens gelungen ist, Einigung auf ein neues Klimaziel für 2030 zu erreichen." Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) begrüßte die Vereinbarung und forderte sogleich, dass "dem Beschluss Taten folgen".

Umweltschutzorganisationen geht das neue EU-Klimaziel hingegen nicht weit genug: Greenpeace sprach von einem "unzureichenden Kompromiss auf Kosten der kommenden Generationen", auch der WWF Österreich und Global 2000 sehen weiteren Verbesserungsbedarf. Von der wissenschaftlich als notwendig anerkannten Reduktion um 65 Prozent bleibe die EU weit entfernt, hieß es.

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte beim Gipfel für das neue 55-Prozent-Ziel geworben und reagierte nach der Einigung Freitagfrüh besonders euphorisch.
Foto: AP/Olivier Hoslet

Energiewende

Bisher hatte sich die EU die Klimaneutralität bis 2050 zum Ziel gesetzt, als Zwischenzielmarke aber nur eine Minderung des CO2-Ausstoßes um 40 Prozent bis 2030 (im Vergleich zu 1990) festgelegt. Der neuen Einigung auf eine Treibhausgasreduktion um 55 Prozent waren stundenlange nächtliche Verhandlungen insbesondere mit osteuropäischen Ländern wie Polen, Tschechien und Ungarn vorangegangen, die mehr finanzielle Hilfe für den Übergang von ihrer kohlegestützten Energieerzeugung zu nichtfossiler Stromproduktion gefordert hatten.

Für die Unterstützung jener EU-Staaten, die bei der Energiewende einen weiteren Weg zurückzulegen haben, sind Milliardentöpfe geplant: ein Modernisierungsfonds, der aus Einnahmen aus dem Emissionshandel gespeist wird; ein Fonds für gerechten Wandel, aber auch der 750 Milliarden schwere Corona-Aufbaufonds, der zu mindestens 30 Prozent zur Umsetzung der Klimaziele genutzt werden soll. Das Haushaltspaket war zuletzt wegen eines Vetos durch Ungarn und Polen blockiert, erst die Einigung im Haushaltsstreit bahnte beim Gipfel dann den Weg für den Klimabeschluss.

Haushaltsstreit

Am Donnerstag war den 27 EU-Staaten nämlich beim Haushalt ein wichtiger Durchbruch gelungen: Der Gipfel machte den Weg frei für das 1,8 Billionen Euro schwere Finanzpaket für die nächsten sieben Jahre. Die Einigung brachte ein von Deutschland vermittelter Kompromiss, den alle Staats- und Regierungschefs billigten. Merkel kann damit kurz vor Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft einen Erfolg verbuchen. Nun können die Hilfen fließen, sofern das Europaparlament zustimmt. Auch ein Nothaushalt 2021 bleibt der EU voraussichtlich erspart.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel konnte den entscheidenden Kompromissvorschlag im Haushaltsstreit vorlegen.
Foto: AFP/OLIVIER MATTHYS

Zusatzerklärung erlaubt Gang vor Gerichtshof

Der Kompromiss sieht eine Zusatzerklärung zu dem neuen Mechanismus vor, mit dem bestimmte Rechtsstaatsverstöße durch Kürzung von EU-Mitteln geahndet werden können. Darin sind Möglichkeiten festgelegt, wie Ungarn und Polen sich gegen die Anwendung der Regelung wehren könnten. Dazu gehört eine Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof, was die Anwendung des Verfahrens deutlich hinauszögern könnte.

Polen und Ungarn kündigten tatsächlich umgehend eine EuGH-Klage an. Den Kompromiss verbuchten sie als Erfolg für sich, aber nicht einstimmig: Polens Justizminister Zbigniew Ziobro befand am Freitag, dass die Einigung ein Fehler gewesen sei. Sie ermögliche "eine bedeutende Einschränkung der polnischen Souveränität". FPÖ-Chef Norbert Hofer zeigte sich über den "Erfolg" Ungarns und Polens beim EU-Budgetstreit erfreut. Befürworter des Rechtsstaatsmechanismus freuten sich ihrerseits, dass das Instrument nun tatsächlich eingeführt wird.

Merkel und von der Leyen zufrieden mit Marathongipfel

Die EU-Staaten gelobten bei dem Gipfel auch eine enger abgestimmte Linie im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Insbesondere bei der Lockerung von Reisebeschränkungen wolle man zusammenarbeiten, sobald es die gesundheitliche Situation erlaube. Von der EU-Kommission erwarte man Empfehlungen zur Verwendung und gegenseitigen Anerkennung von Antigen-Schnelltests. Auch ein gemeinsamer Ansatz für Impfpässe soll entwickelt werden.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte die Ergebnisse des Marathongipfels in Brüssel zum EU-Haushalt, zum Corona-Plan und zum neuem Klimaziel für 2030: "Was für ein Triple, das ist beeindruckend. Und das ist ein guter Tag heute für Europa", sagte von der Leyen am Freitag nach dem Ende der Verhandlungen. Es war der letzte Gipfel unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft. Merkel sagte, ihr sei vor allem ein "Stein vom Herzen gefallen", dass beim Haushalt ein Kompromiss gelungen sei. Allerdings räumte die deutsche Kanzlerin auch ein, dass während der deutschen Ratspräsidentschaft nicht alles gelungen sei: etwa der anhaltende Streit mit der Türkei über Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer.

Sanktionen gegen Russland und Türkei

Die Staats- und Regierungschefs wurden sich bei dem Gipfel zwar auch über neue Sanktionen gegen die Türkei einig, griechische und zypriotische Medien bezeichneten diese am Freitag aber als schwach und Misserfolg. Künftig können Einzelpersonen und Unternehmen sanktioniert werden, die im Mittelmeer an als illegal erachteten Probebohrungen beteiligt sind. Sanktionen gegen ganze Wirtschaftszweige oder ein EU-Waffenembargo wird es hingegen vorerst nicht geben. Ändert Ankara seinen Konfrontationskurs im östlichen Mittelmeer nicht, droht eine Verschärfung der Sanktionen beim nächsten EU-Gipfel im März. Bei einem Einlenken stellt die EU dagegen eine Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen in Aussicht. Ankara wies die Ankündigung als "voreingenommen" und "ungesetzlich" zurück.

Die wegen des Ukraine-Konflikts verhängten Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland wurden um sechs Monate verlängert, bis Ende Juli. (fmo, Reuters, APA, 11.12.2020)