Foto: Matthias Cremer

Seid ja nicht groß wie Loos!

Unsere Aufregung über den Fall Adolf Loos verrät mehr über uns selbst als über Loos. Von Loos werden wir wohl nie wissen, ob er tatsächlich schwerere Vergehen begangen hat als die nachweislichen, für die er verurteilt wurde. Bezeichnend für unsere Gegenwart aber ist, dass wir dazu neigen, es zu glauben und allein darum schon Konsequenzen zu fordern. Jede Anschuldigung erscheint uns wahr, und jeder Verdacht begründet.

Denn wir möchten die Großen fallen sehen – insbesondere diejenigen, die es gewagt haben, aufzubegehren. Ihnen wollen wir sofort, wie Matthias Dusini im Falter gefordert hat, eine "Abgleichung" im Namen von – uns auffällig willkommenen – Ohnmächtigen entgegenhalten. Größe, so meinen wir nämlich, kann immer nur auf Kosten von Kleinen erkauft worden sein. Diese Wunschfantasie bildet die aktuelle Schwundstufe einer einst antiautoritären politischen Haltung. Die Guten können nun nur noch die Kleinen sein. In ihnen sehen wir unser ideales Selbst. "Klein bleiben!", lautet darum die Maxime postmoderner Selbstverzwergung.

Robert Pfaller, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz


Respekt vor der Tradition

Eine Auseinandersetzung mit Adolf Loos ist kunsthistorisch in vielerlei Hinsicht lohnend. Seine pointierten Essays zeugen von einem umfassenden Kulturbegriff, dem ein profundes Wissen der Kunst- und Baugeschichte zugrunde liegt. Bekanntlich ließ er nur zwei Bauaufgaben als Kunst gelten – das Grabmal und das Denkmal. Alle anderen, auch das Haus, seien zweckgebunden und deshalb aus dem Bereich der Kunst auszuschließen. In seinen Interieurs bezieht sich Loos auf verschiedene Quellen, antike oder angelsächsische, die er in die Moderne transferiert und modifiziert.

Der Respekt vor der Tradition und die Ablehnung des Modischen oder des Imitats sind auch aus heutiger Sicht mehr als zeitgemäß. Seine Wegeführungen, die Verwendung edler Materialien, die raffinierte Lichtregie und Farbgebung begeistern nicht nur Studierende der Architekturgeschichte. Retrospektiv betrachtet besteht die internationale Relevanz von Loos in der Entwicklung des "Raumplans", womit er einen revolutionären, alternativen Beitrag zu den Raumkonzepten der Moderne leistete.

Sabine Plakolm-Forsthuber, Professorin an der TU Wien, Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege


im himmel mit loos

ich wollte immer in den architektenhimmel, auch um mit adolf loos über einige dinge zu sprechen. aber seit der neuen moralisierung von kunst und architektur bin ich mir nicht mehr sicher, ob sich das ausgeht oder was ich tun müsste, um auch gewiss in die hölle zu kommen. adolf loos scheint einen zentralen nerv des wiener kulturverständnisses getroffen zu haben, bis heute. ginge es nur um ästhetische empfindungen, würde darüber amüsiert und kennerhaft diskutiert werden. es scheint aber mehr zu sein, was dem zum barock-dekorativen, zu gefälligkeit neigenden wiener architekturverständnis so widerstrebt. wenige kennen die texte von loos oder haben seine bauwerke erlebt und begriffen. architektur ist in wien nur verdaulich, wenn sie spektakulär inszeniert oder geschmacklich aufgeladen oder als politisches mittel, befreit von anspruch und substanz, mit infantilität und niederschwelligkeit als "sozial" inszeniert wird.

architektur bleibt in wien verdächtig. meine hoffnung: es gibt im architektenhimmel auch eine abteilung für moralisch zweifelhafte architekten, sonst könnte es dort einsam werden. bis dahin gibt es zum trost die texte und bauwerke von adolf loos.

Werner Neuwirth, Architekt


Sehnsucht nach Sinnlichkeit

Man muss sich lediglich in die Raumwelten des Adolf Loos hineindenken. Man nimmt in seinen Sofas Platz und sitzt an seinen Tischen. Man bestaunt die fließend ineinander über gehenden Räume und Zonen. Man ist versucht, den kühlen Marmor zu betasten, edle Hölzer zu befühlen und den Flausch seiner Teppiche unter nackten Füßen zu spüren. Alles wird angemessen sein. Gemütlich, doch edel. Praktisch, doch schön.

Was Adolf Loos seiner überladenen Epoche entgegengesetzt hat – nämlich die entschlackte Symbiose aus den drei elementaren Zutaten Qualität, Komfort und Eleganz –, macht heute ebenso Sinn wie zu seiner Zeit und ist geradezu wegweisend. Er arbeitete mit Sinnlichkeit, Raffinesse und Emotionen, nach denen wir uns heute heimlich sehnen. Seine Interieurs geben die richtigen Anstöße in einer Welt des unsinnlich Glatten und rein Funktionalen, in der kaum je ist, was es zu sein scheint.

Billiger Nachbau oder Original? Letztlich egal. Adolf Loos’ Idee der warmen, wohnlichen Räume, kleidsam in jeder Situation, doch nicht zu gefällig, sodass man eine Zeit braucht, um sie für sich zu erobern, wären einfach ins Heute zu transponieren. Wir müssen wieder wohnen lernen.

Gregor Eichinger, Architekt und Interiorgestalter, Büro für Benutzeroberfläche


Sexueller Klassenkampf

Der Beschuldigte darf vor Gericht alles zu seiner Verteidigung Dienliche vorbringen. Wahr muss es nicht sein. Er darf daher behaupten, dass "verderbte" Mädchen von sexuellen Übergriffen fantasieren – oder sich das sogar wünschen, entsprechend Sigmund Freuds Zurücknahme seiner Inzestentdeckungen, dass Symptome oft sexuelle Traumata symbolisieren. Wenn er ein "nobler Herr" war wie Adolf Loos, wurde ihm geglaubt, wurde er doch a priori als moralisch höherstehend bewertet. Und es wurde ihm verziehen, selbst wenn die Beweislast und die Absurdität seiner abenteuerlichen Rechtfertigungsargumente unübersehbar waren.

Diese Denkweise wird noch immer propagiert: Noch immer sehen sich solche Sozialdarwinisten mit finanziellem, künstlerischem, wissenschaftlichem, network-basiertem oder nur medialem Prestige als Wohltäter à la "Sie hat durch mich doch Vorteile gehabt!". Der Skandal des Marquis de Sade bestand nicht in den "perversen" Aktivitäten, die er seiner Klägerin zumutete, sondern darin, dass eine Bürgerliche einen Adeligen vor Gericht brachte. Und eine "Unter-Frau" einen "Ober-Mann".

Rotraud A. Perner, Juristin, Psychotherapeutin und evangelische Theologin


Moderne Mode für freie Menschen

Die Mode befindet sich hoffentlich gerade in einem Paradigmenwechsel, für dessen Gelingen eine Besinnung auf den modernen Standpunkt von Loos definitiv nützlich wäre. Wenn Modeunternehmen von Philistern geleitet werden, die im Rausch von Kosteneffizienz und Margenerhöhung die Qualität ihrer Produkte zugrunde richten, wenn durch eine Wohlstandskluft dem von Klein- und Mittelbetrieben getragenen Handwerk die Lebensgrundlage entzogen wird, während einem besinnungslosen Luxuspöbel jegliche Sensibilität und geschmackliche Kompetenz fehlt, dann ist die Rückbesinnung auf handwerkliche Tradition nicht konservativ – sondern progressiv.

Modernes Design heißt letztlich, dass seine Formensprache Sinn machen muss und dass ästhetische Qualität auf dem soliden Fundament einer lebendigen Handwerkskultur stehen sollte, die jene Sensibilität für Material und Form hervorbringt, die Loos vorexerziert hat. Seine einfache, aber gute Kleidung entspricht dem bürgerlichen Ethos. Ihre Rolle ist aber nicht das Bewahren einer erstarrten Gesellschaft, vielmehr schafft sie durch subtile Perfektion den Rahmen für souveräne und freie Individuen.

Wilfried Mayer, Modedesigner

(Maik Novotny, Wojciech Czaja, 12.12.2020)