Frau Hitt entstammte einem adeligen Tiroler Riesengeschlecht und war für ihren Hochmut ebenso berüchtigt wie für ihre Hartherzigkeit. Weich zeigte sie sich nur zu ihrem Söhnchen, das sie in Milch badete und mit Brotkrumen abrieb. Als sie, hoch zu Ross, von einer Bettlerin am Wegesrand um ein Stück Brot für deren hungerndes Kind angefleht wurde, schleuderte sie auf sie mit den verhängnisvollen Worten "Da hast du dein Brot!" einen Stein herab. Damit offenbarte die Riesin nicht nur Geiz, sondern auch Verachtung. Das Ende der Geschichte kennen wir: Der Fluch der Bettlerin, Frau Hitt möge zu Stein werden, wie es ihr Herz bereits sei, ereilte sie prompt. Seitdem thront sie samt Pferd als schroffer Felszacken auf dem Grat der Nordkette und prägt Innsbrucks Stadtbild.

Urbane Mythen und Legenden

Entspringen Märchen und Sagen einem kollektiven Gedächtnis? Die österreichische Sagenwelt ist von Riesen und Zwergen bevölkert, dazwischen stehen die Menschen. Lange vor Urbanisierung und Industrialisierung verkörperten in einer agrarischen Feudalgesellschaft die "Riesen" den mächtigen Adel, die "Zwerge" die Bergleute (Kleinwüchsigkeit entsprach deren Anforderungsprofil) und die "Menschen" die Bauern. Während in Mittel- und Ostösterreich die Riesen zwar grobschlächtig, aber eher gutmütig auftreten, üben Tiroler Riesen wie Frau Hitt, Serles, Haymon und Thyrsus blanken Terror aus: Sie demütigen, morden und brandschatzen. Hilflos sind die armen Menschen ihren Launen ausgesetzt. Nur die Zwerge, vom Kasermandl bis Laurin, fristen ein weltabgewandtes, alpines Nischendasein.

Wenn in Innsbrucks Stadtzentrum, unter dem Mahnmal der Frau Hitt, auf den Pflastersteinen eine Bettlerin hockt, vor sich einen Yoghurtbecher und einen Pappkarton mit der Aufschrift "Meine Kinder hungern", dann legen ihr Vorbeigehende eine Münze in den Becher oder auch nicht. Vielleicht, zugegeben, eine Frage des Geizes, meistens aber eine Frage der Eile oder auch der sozialpolitischen Erwägung. Vom Berg herab schickt Frau Hitt ihre Büttel, um auf die Bettlerin Steine in Form von Strafzetteln zu schleudern. Der bleibt kein anderer Weg als die Flucht, denn wenn sie ins Gefängnis geht, weil sie hunderte Euro nicht aus dem Becher zahlen kann, wird man ihr erst recht übel auslegen, wenn sie aus der Haft freigekauft wird. Zur Gewissensberuhigung wird eifrig an urbanen Legenden gestrickt: Durch Bestrafung und Vertreibung wolle man die arme Bettlerin vor ausbeuterischen Bettlerkönigen beschützen, die sich vom erbettelten Geld Paläste errichteten.

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Jedem Menschen steht es frei, andere auf seine Not aufmerksam zu machen. Somit sind flächendeckende und zeitüberdauernde Bettelverbote unzulässig.
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Bettelei gibt es seit Menschengedenken. Gehäuft tritt sie nach Kriegen, Naturkatastrophen, sozialen und politischen Umwälzungen auf, besonders dort, wo der Push-Faktor Armut auf den Pull-Faktor Wohlstand trifft. Seit dem Spätmittelalter gehörten mit dem Aufstieg des europäischen Bürgertums, gerade an Verkehrsknotenpunkten wie Innsbruck, Bettelnde zum Stadtbild, wohingegen auf dem Land "Fahrende" mit bescheidenen Serviceleistungen wie Lumpensammeln, Messerschleifen, Korbflechten oder Kesselflicken ihren Lebensunterhalt bestritten. Wie in jeder Auseinandersetzung zwischen Sesshaften und Nomaden war Letzteren die üble Nachrede gewiss. Den Fahrenden, zugleich "Fremden", wurde zur Last gelegt, was innerhalb der Bestandsgemeinschaft ungeregelt blieb: Brandstiftung, Diebstahl, Hexerei, Seuche oder das angebliche Verschwinden von Kindern. Als Sündenbock erfüllten die Wohnsitzlosen unfreiwillig eine kathartische Funktion für die Ansässigen.

Seit dem 14. Jahrhundert lässt sich in der Rechtsprechung eine Koppelung von Bettelei und Vagabundieren als Missstand, später als Straftatbestand feststellen. Die erste amtliche Bettelverordnung ist 1370 in Nürnberg dokumentiert, zahllose sind ihr seitdem gefolgt. Während im frühen Christentum und im Islam, wo die soziale Hierarchie als gottgegeben gilt, die Almosenspende erwünscht und theologisch verankert ist, steigt unter dem Einfluss des Protestantismus, der irdischen Wohlstand mit göttlichem Wohlwollen gleichsetzt, die Wertschätzung bezahlter Erwerbsarbeit. Betteln geriet mit der Reformation zunehmend in Misskredit, dafür systematisierte sich die Armenfürsorge. Wohlwollend kann man darin die Entwicklung des modernen Sozialstaates sehen oder polemisch jene des Kapitalismus. Zwei Seiten einer Medaille.

Arbeitslager und Ausrottung

Bereits in den Sozialutopien des 19. keimte der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, der sich besonders in seiner faschistischen Ausprägung für Bettler und Fahrende verheerend auswirkte. Flächendeckend wurden ab 1937 die europäischen Roma und Sinti unter der nationalsozialistischen Herrschaft erst in Sammellager, dann in Arbeits- und Vernichtungslager deportiert. Porajmos ("Verschlingung"), so nennen die Überlebenden und deren Nachfahren die Ausrottung ziganischer Ethnien. Rudolf Höß schreibt über seine Zeit als Lagerkommandant von Auschwitz: "Es blieben dann noch bis August 1944 ca. 4000 Zigeuner übrig, die in die Gaskammern gehen mußten. Bis zu diesem Zeitpunkt wußten diese nicht, was ihnen bevorstand. Erst als sie barackenweise nach dem Krematorium 1 wanderten, merkten sie es. Es war nicht leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen."

In Österreich beläuft sich die Zahl der ermordeten Roma und Sinti auf rund 9000 Personen, für ganz Europa schwanken die Schätzungen zwischen 200.000 und 500.000. Der Todesstoß für die Tiroler "Zigeuner" erfolgte am 3. April 1943 um sechs Uhr früh mit der Abfahrt eines Zugs Richtung Auschwitz ab Hauptbahnhof Innsbruck. Im Vorfeld hatte im Gau Tirol-Vorarlberg ein eifriger Beamtenapparat, noch ehe ein einschlägiger Befehl aus Berlin vorlag, deren Schikanierung, Diskriminierung, Verfolgung, Zwangssterilisation, später Deportation und Ermordung vorangetrieben. Bereits seit dem 1871 in Kraft getretenen "Schubgesetz" hatten Bundesländer und Gemeinden die "Bekämpfung des Zigeuner-Unwesens" in eigenen Erlässen geregelt. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Eine Wiedergutmachung seitens der Täterstaaten, seien es Österreich und Deutschland oder gar die Nachfolgestaaten einstiger Nazi-Marionettenregimes wie das des rumänischen Diktators Antonescu, blieb den Opfern verwehrt. Roma und Sinti galten nach den Wiedergutmachungsregeln weder als "rassisch" noch als "religiös" verfolgt, sondern als "Asoziale". Somit stand weder Opfern noch deren Angehörigen Entschädigung für erlittenes Unrecht zu. Dasselbe gilt für Tiroler "Karrner" oder "Jenische", die zwar keinem Genozid ausgesetzt waren, aber in nationalsozialistischen Zwangsarbeitslagern (oft zu Tode) geschunden wurden. Trotz dieser unbeglichenen Schuld hat sich in Österreich an der Ächtung verarmter Randgruppen bis heute wenig geändert. Dies gilt besonders für den Antiziganismus, der 1995 mit Franz Fuchs’ Terroranschlag gegen burgenländische Roma seine allerhässlichste Fratze zeigte. Erschreckend ist, wie salonfähig heute krudester Antiziganismus gerade in postkommunistischen Staaten ist. Immer noch oder wieder?

Städtische Slums

Der Großteil der in Innsbruck Bettelnden stammt aus solchen Ländern, viele aus Rumänien, andere aus der Slowakei oder Bulgarien. Sie sind Notreisende im wahrsten Wortsinn. Mit Betteln in reicheren Ländern lindern sie die Not, denn ihre heimischen Lebensumstände sind erbärmlich. Seit Jahrhunderten werden ihnen Integration und Ortsbindung durch Niederlassungsverbote erschwert. Einige sind noch als Fahrende unterwegs, viele hingegen vegetieren in städtischen Slums, in Papp- oder Wellblechverschlägen am Rande von Müllhalden, andere in Dörfern ohne jegliche kommunale Infrastruktur wie Straßen, Fließwasser, Kanalisierung, Müllentsorgung oder Elektrizität, denn ihre Siedlungen sind in keinem Bebauungsplan ausgewiesen, von Grundbucheinträgen oder Meldeadressen keine Rede. Amtlich existieren sie nicht.

Für die Bewohner gibt es kaum medizinische Versorgung, weder gegen Krankheiten noch für Geburtenplanung. Die meisten Kinder haben aufgrund der räumlichen Absonderung weder von innen noch von außen jemals eine Schule gesehen. So perpetuieren sich Armut und Perspektivlosigkeit über Generationen hinweg. Zweckgebundene Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds werden nicht abgerufen, nationale Unterstützungsgelder versickern in den Taschen lokaler Politiker.

Ghetto und Grenzen

Die Corona-Pandemie verschärft die Ghettoisierung: Wie schon zu Zeiten der Pest gelten Fahrende als Seuchenverbreiter, der Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen oder Gebieten wird ihnen nun noch kategorischer verwehrt. Notreisen wurden durch die Grenzschließungen im Frühjahr 2020 gestoppt. Bereits zuvor gab es viele Versuche, die binneneuropäische Freizügigkeit ausgerechnet für Fahrende zu unterbinden. Die Abschiebung und Rückführung tausender Roma aus Frankreich in ihre südosteuropäischen Herkunftsländer unter Präsident Sarkozy im Jahr 2010 erregte dabei das größte Aufsehen und die meisten Proteste wegen Verstoßes gegen geltendes EU-Recht, wurde aber im Kleinen vielfach kopiert. Auch in Österreich. Nur dass hierzulande politische Aufträge heimlich erteilt werden und sich die Behörden hinter Paragrafen verschanzen. In freier Exegese.

Betteln ist nicht nur in Österreich grundsätzlich erlaubt. Zuletzt wurde dieses Recht 2012 vom österreichischen Verfassungsgerichtshof bestätigt, und zwar gemäß dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung: Jedem Menschen stehe es frei, andere auf seine Not aufmerksam zu machen. Somit sind flächendeckende und zeitüberdauernde Bettelverbote unzulässig. Sektorale beziehungsweise temporäre Bettelverbote stehen unter verfassungsgerichtlicher Beobachtung und werden immer wieder kassiert.

Ebenso ließe sich mit dem Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte argumentieren: dem Recht auf Arbeit. Denn um Arbeit handelt es sich beim Betteln ohne Zweifel. Ob man nun Arbeit biblisch als "Mühsal" definiert, wirtschaftlich als "zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste Tätigkeit" oder als "Tätigkeit zur Einkommenserzielung": Betteln fällt unter jede Kategorie. Über sozialen Nutzen und Anstand von Arbeit lässt sich trefflich streiten. Ist es anständig, wirkstofffreie Zuckerkügelchen als Heilmittel oder pseudotechnische Wasserbelebungsanlagen zur Gesundheitsförderung zu verkaufen? Nein, ist es nicht. Dient es der Einkommenserzielung? Ja, tut es. Gemessen daran ist Betteln anständige und ehrliche Knochenarbeit. Bei Kälte wird man Bettelnde im Schatten finden, bei Hitze in der Sonne, stundenlang in Demutshaltung verharrend, um die Mühsal und deren Ertrag zu steigern. Allen Vorbeigehenden steht es frei, dafür zu zahlen oder nicht. Anders als beim Steuerentzug durch globale Firmentätigkeit, dessen Griff in unsere Tasche sich nicht abwehren lässt. Unfreiwillig spende ich in meinen Starbucks-Kaffeebecher mehr als freiwillig in den Yoghurtbecher der Bettlerin.

Schemel und Schikanen

Grundrechtskonform gestattet das Tiroler Landespolizeigesetz stilles und passives, verbietet jedoch aggressives, aufdringliches und gewerbsmäßiges Betteln, Betteln unter Mitwirkung von Unmündigen (Sternsinger?) sowie Zwang zum Betteln. Auf populistischen Druck wurde ab Frühjahr 2018 dieser Bettelparagraf in Innsbruck immer kreativer ausgelegt. Werden Bettelnde zum zweiten Mal am selben Platz angetroffen: gewerbliche Tätigkeit. Der Schemel, auf dem die Bettlerin sitzt: gewerbliche Investition. Vernehmbares Klagen: Lärmbelästigung, Aufdringlichkeit, Missstand! Auch wenn sich der Organisationsgrad Notreisender auf Fahrgemeinschaften beschränkt und die Ertragskollektivierung auf Familien, es braust ein Ruf wie Donnerhall: Bettelmafia!! So hagelte es Anzeigen auf Bettelnde. Exekution: ad hoc. Bußgeldhöhe: ad libitum. Jedenfalls dreistellig. Wo Grundrechte als zu wohlwollend und Gesetze als zahnlos gelten, schnappen Verordnungen zu.

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Die Corona-Pandemie verschärft die Ghettoisierung: Wie schon zu Zeiten der Pest gelten Fahrende als Seuchenverbreiter ...
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Die Jahresberichte der Tiroler Landespolizei 2018 und 2019 rühmen sich eines hochprozentigen Rückgangs der "Bettel-Aufgriffe". Obwohl die sektoralen Bettelverbote für Gelegenheitsmärkte auf Antrag der grünen Innsbrucker Stadtregierung in einem knappen Gemeinderatsbeschluss im Dezember 2019 gekippt wurden, finden sich seit zwei Jahren kaum noch Bettelnde in der Innsbrucker Innenstadt. Laut Aussagen betreuender Ehrenamtlicher sind sie abgereist, auf permissivere Umlandgemeinden ausgewichen oder betteln versteckt. Innsbruck hat sie hinausschikaniert. Zufrieden nickt Frau Hitt vom Berg herunter.

Bettelmafia? Holzmafia

Bewohner und Mitarbeiter der Innsbrucker Notunterkunft Waldhüttl erzählen mir, dass sich die Lage ihrer Familien in den Herkunftsländern drastisch verschlimmere, seit die an ihre Siedlungen grenzenden Waldgebiete von ausländischen Investoren aufgekauft würden. Nun dürfen sie ihre Behausungen nicht mehr durch Holzsammeln beheizen wie bisher. Deutsche Quellen bestätigen, dass betroffene Familienväter wegen Holzdiebstahls im Gefängnis sitzen, was ihre Frauen umso mehr in die Bettelei treibt. Auch marktführende österreichische Firmen, die berüchtigte "Holzmafia", betreiben großflächigen Raubbau an rumänischen Wäldern, selbst in Naturschutzgebieten. Dazu fügt sich die zweite Version der Innsbrucker Frau-Hitt-Sage: Der Sohn der Riesin habe eine Tanne knicken wollen, um sich ein Steckenpferd daraus zu schnitzen. Ein Bauer habe ihn daran hindern wollen, denn Brennholz sei nötig und Bannwald heilig. Beim Gerangel um das Bäumchen sei der Riesensohn in den Morast gerutscht, die Mutter habe ihn mit Brotkrumen reinigen wollen, worauf sich das ehemals blühende und fruchtbare Land in eine Steinwüste verwandelte samt Frau Hitt, Sohn und Hofstaat. Unsere Städte haben sich in eine Kommerzwüste verwandelt. Wer nicht konsumiert, ist fehl am Platz. Armut mag sich als Adventfolklore verkaufen, zur Realityshow taugt sie nicht. Drum: Innsbruck ist bettelfrei. (Sabine Wallinger, ALBUM 12.12.2020)