Bilder wie dieses aus Deutschland sollen schon bald der Vergangenheit angehören.

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Es ist selten, dass auf EU-Ebene etwas früher passiert als geplant. Tatsächlich waren Beobachter bis zuletzt der Meinung, dass eine Entscheidung zu den EU-Klimazielen erst am späten Freitagabend fallen wird. Nun gab es doch schon in der Früh einen Durchbruch: Die Staats- und Regierungschefs einigten sich auf eine Treibhausgasreduktion um mindestens 55 Prozent bis 2030.

Was bedeutet das im Detail?

Die EU hat sich darauf geeinigt, ihren gesamten Treibhausgasausstoß bis 2030 im Vergleich zu 1990 um mindestens 55 Prozent zu reduzieren. Bisher galt ein Minus von 40 Prozent. Bei dem Wert handelt es sich um ein "Nettoziel". Dadurch können Einsparungen durch CO2-Senkungen, Aufforstung und andere Methoden abgezogen werden.

Was bedeutet das für die einzelnen Mitgliedsstaaten?

Das ist noch nicht klar. Das neue Klimaziel wird auf die einzelnen Staaten verteilt werden. Bisher wurde das Bruttoinlandsprodukt als Schlüssel herangezogen – je höher dieses ist, desto mehr Emissionen müssen eingespart werden. Das könnte sich ändern. Die "Effort Sharing Regulation", die Verordnung zur Aufteilung der Anstrengungen, soll offenbar überarbeitet werden. Für Österreich galt bisher, dass es seinen Ausstoß bis 2030 im Vergleich zu 2005 um 36 Prozent reduzieren muss. Dieser Wert wird also steigen. Die Staaten können weiter selbst über den Energiemix in ihrem Land entscheiden, wie aus der Entscheidung hervorgeht, die dem STANDARD vorliegt. Gas als Übergangstechnologie wurde darin explizit erwähnt. Das Wort "Nuklearenergie" wurde in dem Text hingegen ausgespart.

Stimmt das Ziel mit jenem des Pariser Klimaabkommens überein?

Nein, sagen Wissenschafter. Um das 1,5-Grad-Klimaziel zu erreichen, hätte das Minus 60 oder 65 Prozent ausmachen müssen.

Wieso einigten sich die Staaten dann nicht auf ein höheres Ziel?

Hier blockierten vor allem osteuropäische Staaten wie Polen, Tschechien und Ungarn, die stark von fossilen Energieträgern abhängig sind. Die nordischen Staaten plädierten hingegen für ein höheres Ziel, wie zu hören ist. Sie wollten zumindest, dass das Wort "netto" gestrichen wird. Das ist ihnen nicht gelungen.

Vor allem Polen stellte sich quer. Wie schaut der Kompromiss aus?

Das Land pocht auf finanzielle Unterstützung. Sie forderten mehr Geld für den Übergang von ihrer kohlegestützten Energieerzeugung zu nichtfossiler Stromproduktion. Dafür sind insgesamt Milliardentöpfe geplant: ein Modernisierungsfonds, der aus Einnahmen aus dem Emissionshandel gespeist wird; ein Fonds für gerechten Wandel, aber auch der 750 Milliarden schwere Corona-Aufbaufonds, der zu mindestens 30 Prozent zur Umsetzung der Klimaziele genutzt werden soll. Die "Presse" zitiert zudem zwei Diplomaten, die es für möglich halten, dass Polens Ministerpräsident, Mateusz Morawiecki doch noch weiter blockieren könnte. Wenn es im Jänner darum geht, die Klimaziele auf Nationalstaaten herunterzubrechen, könnte er mit einem nächsten Veto drohen.

Wofür hat Österreich gestimmt?

Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat bereits am Donnerstag via Twitter angekündigt, dass er für das 55-Prozent-Ziel stimmen wird. Damit hat sich Österreich nicht, wie im Regierungsprogramm festgehalten, an den europäischen Vorreitern orientiert. Diese wollten eben kein Nettoziel. Auch im Parlament wurde im Juni beschlossen, dass sich Österreich konsequent in der Gruppe der Klimaschutzvorreiter zu positionieren habe. Die eingebrachte Stellungnahme stammte von ÖVP und Grünen. "Diese Einigung ist ein dringend notwendiger Schritt, um die Klimakrise abzuwenden. Jetzt müssen dem Beschluss Taten folgen", sagte Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) in einer Aussendung. "Wir haben keine Zeit zu verlieren, es gibt keine Ausreden mehr." Ihr Parteikollege auf EU-Ebene, Thomas Waitz, hält das Ziel für "weiterhin unscharf"; Parteichef Werner Kogler hält es hingegen für einen "Meilenstein". Alexander Bernhuber, Umweltsprecher der ÖVP im Europaparlament, sprach von einem guten Kompromiss: "Alles darüber hinaus wäre gänzlich unrealistisch, denn wir dürfen nicht die Wirtschaft oder die Industrie abwürgen."

Was sagt die Opposition dazu?

Die FPÖ hält das Ziel für "völlig unrealistisch". Es werde "gravierende Auswirkungen auf Europas Bürger" haben, sagte Harald Vilimsky, freiheitlicher Delegationsleiter im Europaparlament. Neos-Europaabgeordnete Claudia Gamon hält das Ziel hingegen für zu niedrig, immerhin würde die Wissenschaft für minus 65 Prozent plädieren. "Die Mitgliedsstaaten müssen endlich auch die Zeichen der Zeit erkennen", so Gamon.

Wie kommentieren die EU-Spitzen das Ergebnis?

Die zeigen sich überwiegend zufrieden mit dem Kompromiss. EU-Ratspräsident Charles Michel schrieb auf Twitter: "Europa ist im Kampf gegen den Klimawandel führend." Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßte den Entschluss.

Wie schätzen Umwelt-NGOs das neue Ziel ein?

Der WWF kritisiert den "mutlosen Kompromiss auf Kosten der Zukunft" und ortet eine verpasste Chance. Laut der NGO hätte das Ziel minus 65 Prozent lauten müssen – "und das ohne Tricks und Schlupflöcher". Auch Greenpeace spricht von einem "unzureichenden Kompromiss". Durch die Festlegung eines Nettoziels werde die tatsächlich mögliche Reduktion "auf magere bis zu minus 50,5 Prozent" gedrückt. Eine Reduktion um mindestens 65 Prozent sei machbar und notwendig, heißt es bei Global 2000.

Was steht noch im Beschluss?

Die Mitgliedsstaaten wollen das Emissionshandelssystem stärken – wie genau, wird in dem Papier nicht erklärt. Darüber hinaus soll Energiearmut ein größeres Thema werden. Die Staaten schlagen zudem einen CO2-Grenzmechanismus vor – also eine Art "Klimazoll" an der EU-Außengrenze. Genauer wurde darauf allerdings nicht eingegangen. Durch den Mechanismus soll jedenfalls verhindert werden, dass es zu einer Abwanderung der Industrie kommt. Auch im Bereich der Biodiversität will die EU ihre Ambitionen verstärken.

Wie geht es weiter?

Nun werden die Trilog-Verhandlungen zwischen EU-Parlament, -Rat und -Kommission aufgenommen. Diese kamen zu durchaus unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Das Europäische Parlament etwa hatte eine Reduktion um 60 Prozent gefordert. (Nora Laufer, 11.12.2020)