Hinschauen und denen, die Gewalt erfahren haben, eine Stimme geben: die deutsche Autorin Cemile Sahin (30).

Foto: Paul Niedermayer

Auch wenn man es nicht gleich auf den ersten Blick sieht, aber Sprache und Gewalt sind eng miteinander verbunden. Um zu wissen, dass auch Worte verletzen können, muss man nicht erst Standardwerke wie Judith Butlers "Haß spricht" gelesen haben – in den meisten Fällen hat man es schon als Kind am eigenen Leib erfahren.

Sprache ist aber nicht nur in manchen Fällen selbst die Gewalt, sie ist auch ein Mittel, ebensolche zu verarbeiten. Die Weltliteratur ist voll davon, von Aischylos’ "DiePerser" über die Sonette Andreas Gryphius’ bis zu den Gedichten Anna Achmatowas. Die hat einmal davon erzählt, wie sie in einer Schlange in einem Leningrader Gefängnis stand und als Schriftstellerin erkannt wurde: "Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich niemals gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton): ‚Und Sie können dies beschreiben?‘ Und ich sagte: ‚Ja.‘ Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war."

Sprache kann Gewalt nicht ungeschehen machen. Aber sie kann denen, die sie erfahren haben, eine Stimme geben. Sie kann bezeugen, was geschehen ist, dem Unaussprechlichen Worte geben – und denen, die die Gewalt verübt haben, signalisieren: Wir schauen hin. Es wird nicht vergessen, was ihr getan habt.

Gebrochenes Schweigen

Trost und Beistand für die Opfer, zugleich aber kämpferischer Widerstand, das ist auch Cemile Sahins "Alle Hunde sterben". Sie schreibt darin von einer latenten Gewalt, über die hierzulande wenig geredet wird – erst recht, seit der Blick in andere Weltgegenden, zu anderen Katastrophen und Kriegen ging. "Alle Hunde sterben" erzählt von der Polizei- und Militärgewalt in der Türkei. Einem Land, das der EU Flüchtlinge vom Leib hält.

Aus dem aber auch selbst Menschen flüchten: 2016, und mittlerweile schon wieder fast in Vergessenheit geraten, gab es in der Türkei einen Putschversuch, zwei Jahre lang herrschte der Ausnahmezustand, danach wurden Antiterrorgesetze verschärft, streng genommen hat der Ausnahmezustand seither nicht mehr aufgehört. Für das Jahr 2016 hielt eine in Ankara ansässige Denkfabrik fest, dass es im Land 11.000 aus politischen Gründen Inhaftierte gebe; wie schnell man im Gefängnis landet, konnte man auch an aufsehenerregenden Fällen wie jenem von Deniz Yücel verfolgen.

Was das für die Menschen in der Realität bedeutet, nämlich Willkür und Paranoia, davon erzählt Sahin in ihrem Roman, den man durchaus auch als Kampfansage verstehen kann. Sie schaut genau hin, wo viele wegschauen. Neun Menschen berichten in "Alle Hunde sterben" in neun Episoden protokollartig von ihrem Leben.

Allgegenwärtige Paranoia

Sie leben auf verschiedenen Stockwerken eines Hochhauses in der Westtürkei, sind aus dem Osten geflüchtet, haben Folter und Gefängnis erlebt. Ihre Kinder, Eltern, Cousins und Geschwister wurden ermordet, verschleppt, grundlos eingesperrt. Hinter jeder Ecke lauert in dieser Welt ein Polizist, ein Soldat, jede und jeder könnte ein Terrorist sein, denn: "Im Osten wohnt der Terror."

Nirgends steht das Wort "Kurde", nirgends "Türkei", es ist nur von "hier" die Rede und manchmal vom Vaterland, oder besser von den Verrätern desselben. Das heißt nicht zuletzt: Dieses Vaterland könnte jedes Land sein, wenn nicht heute, dann vielleicht in Zukunft. Was die allgegenwärtige Paranoia, die Gewalt und Angst mit den Menschen macht, beschreibt Sahin in grausig-einprägsamen Bildern: Ein Begräbnis wird aus der Not (denn wer Terroristen begräbt, ist selbst einer) als Hochzeit getarnt. Zwei junge Frauen verbringen den Tag in einem doppelten Boden in der Decke, nur nachts stehen sie auf, um zu essen. Im Gefängnis, erzählt eine der Figuren, hätten sie nur mit Blicken kommuniziert. Aber: "Auch hier draußen fehlte die Sprache."

Sahin schafft es, eine Sprache für die Gewalt zu finden. Nicht so sehr in der konkreten Beschreibung der Gewalt, die ist notgedrungen plakativ. Aber sie erzählt, wie sich Gewalt fortpflanzt, sich überträgt, wenn ein Mensch sieht, hört oder imaginiert, was einem anderen Menschen widerfährt. "Ich lag in der Zelle, während mein Cousin am Straßenrand lag." "Denn als mein Sohn im Sterben lag, lag ich im Bett." Immer wieder: Die Hilflosigkeit, das Grauen, das in der Gleichzeitigkeit steckt.

Man kann dieses Buch nicht am Stück lesen, zu geballt ist der Schmerz, die Ungerechtigkeit. Lesen aber sollte man es unbedingt. Schon allein, um diesen unzähligen Menschen Gehör zu verschaffen. (Andrea Heinz, ALBUM, 12.12.2020)


Cemile Sahin, "Alle Hunde sterben".
€ 20,90 /239 Seiten.
Aufbau-Verlag, Berlin 2020
Foto: aufbau