Foto: Bastei Lübbe

Den Plot eines Polit-Krimis nutzt Robert Jackson Bennett, um uns eine überaus faszinierende Welt zu erschließen. Zugleich führt uns der US-amerikanische Autor, der erstmals 2010 mit seinem Horror-Roman "Mr. Shivers" für Aufsehen sorgte, mit seiner "Divine Cities"-Trilogie zurück in die Zeit der Jahrtausendwende, als die Genregrenzen durchlässig wurden. Bei Autoren wie Steph Swainston, Jeff VanderMeer oder China Miéville verschmolzen Elemente von Fantasy, SF, Steampunk, Magic Realism usw. zu etwas Neuem, Spannendem. So auch hier. Die numinose Bevölkerung der "Stadt der tausend Treppen" zählt jedenfalls zu den originellsten der letzten Zeit; auf den mhovost wäre selbst Miéville stolz.

Obwohl hier das Übernatürliche selbst in höchster Instanz agiert (soll heißen: Götter), ist der Roman aber extrem gut geerdet. Technologisch befinden wir uns in dieser Welt (einer alternativen Erde?) auf einem Stand, der dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert entspricht. Wir lesen schon auf den ersten Seiten von Armbanduhren, Eisenbahnen, Fotografien und Parteiendemokratie – Dingen also, die alles andere als ein Klischee-Fantasysetting abgeben. Und der Roman beginnt auch ganz bürokratisch, nämlich mit einer Gerichtsverhandlung wegen eines Verstoßes gegen die Säkularisierungsregularien.

Der Hintergrund

An dieser Stelle ist es Zeit für einen historischen Abriss: Vor einigen Jahrtausenden haben sich auf dem Hauptkontinent dieser Welt sechs Götter manifestiert und ihn samt seiner menschlichen Bevölkerung zu etwas umgeformt, gegen das selbst die Erzählungen aus "1001 Nacht" unbunt wirken. Getragen von göttlicher Macht, hat sich der Kontinent schließlich zur Weltherrschaft aufgeschwungen. Eines seiner Opfer waren die – äußerlich indisch/vorderasiatisch, gesellschaftlich aber eher westlich beschriebenen – Saypuri auf einer Insel südlich des Kontinents. Lange Zeit versklavt, rebellierten sie schließlich.

Unter der Führung des legendären Kaj, der eine Waffe konstruiert hatte, mit der man Götter töten kann, schüttelten die Saypuri die Herrschaft ab und unterwarfen ihrerseits den Kontinent. Verbunden war dies mit einem Wimpernschlag genannten Ereignis der verheerenden Art: Mit dem Tod eines Gotts erloschen nämlich auch alle Wunder, die er je erschaffen hatte. Da die Götter aber tief in die Struktur der Wirklichkeit eingegriffen hatten, führte dies zu einer kontinentweiten Katastrophe: Städte fielen in Trümmer, ganze Landstriche wurden verwüstet, Millionen Menschen starben.

Culture Clash

Und da sitzen die Saypuri nun Jahrzehnte danach in Bulikov, der zentralen Metropole des Kontinents mit den besagten "tausend Treppen", und überlegen, wie sie den Scherbenhaufen wieder zu etwas Ganzem machen. Fortschrittlich und nicht unbedingt kriegerisch gesinnt, versuchen sie sich in State Building, werden von der immer noch verelendeten Bevölkerung aber als fremde Besatzungsmacht abgelehnt. Dass sie den tiefreligiösen Menschen Bulikovs – letztlich zum Schutz der Welt – eine Zwangssäkularisierung auferlegt haben und jeden Verstoß dagegen streng bestrafen, schürt den schwelenden Konflikt immer weiter. Eine Figur bringt das Dilemma der Saypuri auf den Punkt: "Wir sagen ihnen, sie sollen ihre einstige Größe vergessen, aber können sie das? Könnten wir es? Könnte es irgendjemand?"

Kolonialismus und Clash der Kulturen. Terrorismus und wie man daraus politisches Kapital schlägt. Massenumerziehung und Geschichtsrevisionismus (wir werden sehen, dass auch die wohlmeinenden Saypuri große Schuld auf sich geladen haben – was sie unter den niederrangigen übernatürlichen Wesen angerichtet haben, kann man nicht anders als einen Holocaust bezeichnen). Der Konflikt von Säkularismus vs. Religiosität, von Moderne vs. Tradition: Für einen Fantasy-Roman, der "Stadt der tausend Treppen" letztlich ja ist, sind das sehr moderne Themen.

Der Plot

Der Dauerkonflikt wird virulent, als ein saypurischer Gelehrter in Bulikov ermordet wird. Er sollte die Geschichte der Stadt studieren – inklusive deren Theologie, was den Einheimischen selbst ja streng verboten ist. Zur Aufklärung kommt unter dem Deckmantel einer "Kulturattachée" die Agentin Shara Tivani angereist. Bebrillt und zierlich, in Wahrheit aber taff wie eine Raubkatze, birgt sie einige Geheimnisse. Zum Beispiel dass sie eine direkte Nachfahrin des Kaj ist, aber auch, dass sie etwas weiß, das bisher nicht über Geheimdienstkreise hinausgelangt ist: Einer oder gar mehrere der Götter könnten nämlich noch leben.

Ganz überraschend wäre das eigentlich nicht, immerhin funktionieren einige der göttlichen Mirakel – magische Gegenstände oder Rituale – immer noch. Eines davon ist sogar weithin sichtbar, nämlich die einseitig transparente Stadtmauer Bulikovs, von Bennet als psychedelische Erfahrung beschrieben: Es sind nicht die monströsen Dimensionen, die er verstörend findet, obgleich sie für sich genommen durchaus angsteinflößend sind, nein, wirklich unheimlich findet er, dass sie, je höher sein Blick daran hinaufwandert, umso weniger sichtbar wird. Statt verfugtem Mauerwerk erkennt er die Umrisse ferner Berge, Sterne, Baumwipfel, die sich im Wind hin und her wiegen: Schemen der nächtlichen Landschaft außerhalb, als wäre die Mauer nicht aus Stein, sondern aus milchigem Glas. [...] Aber wäre ich auf der anderen Seite, spinnt er den Gedanken weiter, oder ginge näher heran, würde ich nur weiße Steine sehen.

Rätselhafte Schwankungen der Realität widerfahren auch Sharas riesenhaftem "Privatsekretär" Sigrud. Dass sich vor seinen Augen mehrfach Bilder des alten Bulikov über das der Gegenwart legen, spiegelt übrigens das Buchcover wider: Durch eine Zusatzfolie können wir zwischen der prunkvollen und der ruinierten Ansicht der Stadt wechseln. Hübsche Idee!

Sehr empfehlenswert!

Die steigende Spannung ob der Frage, was es mit den Göttern nun tatsächlich auf sich hat (und was für eine Art von Wesen sie eigentlich waren), ergibt zusammen mit den politischen Aspekten, Bennetts geschliffenem Stil und der Atmosphäre von magischem Realismus eine fesselnde Mischung, die große Vorfreude auf die beiden Nachfolgebände weckt.