Ungarns Premier Viktor Orbán (li.) und sein polnischer Amtskollege Mateusz Morawiecki bei ihrem gemeinsamen Auftritt am Donnerstag in Brüssel. Die Visegrád-Partner Tschechien und Slowakei waren diesmal nicht mit von der Partie.

Foto: EPA / Radek Pietruszka

"Veto oder Tod!" So lautete im Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU eine oft zitierte Parole aus den Reihen der regierenden polnischen Nationalpopulisten. Das Motto ist nicht nur reißerisch, sondern auch falsch. Gerade eine Blockade des nächsten EU-Haushalts und der Corona-Hilfen – eines Finanzpakets im Umfang von insgesamt 1,8 Billionen Euro – hätte für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union schwerwiegende Folgen gehabt. Also auch für Polen und Ungarn, die mit einem solchen Veto gedroht hatten.

Einen Sieg auf ganzer Linie konnten beide Länder aber nicht ernsthaft erwarten. Dass die geplante Koppelung des Bezugs von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien nicht einfach wieder vom Tisch gewischt wird, war von Anfang an klar. Zu groß ist die Sorge in vielen anderen Mitgliedsstaaten, insbesondere bei den Nettozahlern, dass ihr Geld im Umfeld mangelnder Transparenz und einer politisierten Justiz in den Taschen von Politikern und ihren Günstlingen verschwindet. Vor allem eben in Polen und Ungarn, jenen beiden Ländern, gegen die seit Jahren Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags laufen.

Viele Enttäuschungen

Die Alternative zum Veto war also nicht der Tod, sondern – wie so oft in der EU – ein Kompromiss. Das ist die gute Nachricht. Es gibt aber auch schlechte Nachrichten, und zwar für alle Beteiligten. Wer sich gewünscht hatte, dass rechtsstaatliche Bedenken nun rasch und umfassend mit Sanktionsdrohungen einhergehen können, wurde herb enttäuscht. Zum einen sollen erst noch genaue Richtlinien zur Umsetzung des bereits beschlossenen Rechtstaatsmechanismus erarbeitet und schließlich vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) geprüft werden, was Polen und Ungarn noch viel Zeit verschafft – Ungarn wohl sogar bis zur nächsten Parlamentswahl im Jahr 2022. Zum anderen wurde klargemacht, dass die Regelung nur greift, wenn es um konkreten Missbrauch von EU-Mitteln geht und nicht etwa um Fragen wie Medienfreiheit, Abtreibungsrecht, Flüchtlingspolitik oder Rechte sexueller Minderheiten.

Doch auch die Regierungen Polens und Ungarns können sich nicht als Sieger verkaufen – selbst wenn sie mit Blick auf ihre heimische Klientel genau das natürlich versuchen. Der Mechanismus, den sie zu Hause als unzulässige Einmischung in "innere Angelegenheiten" dargestellt haben, wird nicht wieder aufgeschnürt. Und international stehen beide Länder mit ihrem schwer zu vermittelnden Kampf gegen die Durchsetzbarkeit rechtsstaatlicher Regeln nun isolierter da als je zuvor. Tschechien und die Slowakei, die beiden anderen Partner in der Visegrád-Gruppe, die sonst in vielen wichtigen Fragen einig an einem Strang zieht, waren diesmal nicht mit von der Partie. Das wird auch in der überwiegend proeuropäisch eingestellten Bevölkerung Polens und Ungarns registriert.

Belastetes Machtdreieck

Die Brüsseler Einigung ist also ein klassischer Kompromiss, bei dem beide Seiten einen Erfolg vorweisen können und niemand alles erreicht hat. Dass in dem Streit auch die europäischen Institutionen Federn lassen mussten, ist zunächst ein unangenehmer Begleitaspekt: Im Machtdreieck zwischen Europäischem Rat, Kommission und Parlament musste vieles mühsam ausbalanciert werden, und nicht wenige – insbesondere Parlamentsabgeordnete, die den Regierungen in Warschau und Budapest kritisch gegenüberstehen – sahen sich dabei übervorteilt.

Auf lange Sicht könnte es sich aber durchaus als Vorteil erweisen, dass die Regeln des Rechtsstaatsmechanismus nun klar abgesteckt und vom EuGH juristisch wasserdicht gemacht werden sollen. Schließlich sind es gerade Polen und Ungarn, die sich darüber beklagen, dass andere sie lediglich aus politisch-ideologischen Gründen maßregeln würden. Rechtsstaatlichkeit muss auf rechtlichem Weg durchgesetzt werden. Die Voraussetzungen dafür sind nach dem Brüsseler Kompromiss nun besser als vorher. (Gerald Schubert, 11.12.2020)