Protestierende zeigten sich Ende November in Brüssel mit ungewollte Schwangeren in Polen solidarisch und demonstrierten vor dem Europäischen Parlament.

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An manchen Tagen ist Kinga erschöpft. Aber die Studentin hat trotz Kälte, Corona-Krise und zunehmender Polizeigewalt nicht vor, aufzugeben: "Für mich ist der Zugang zu sicherer Abtreibung die Kernfrage. Es ist ein grundlegendes Menschenrecht, und dafür werde ich auch weiter auf die Straße gehen", sagt die 24-Jährige, die Philosophie an der Warschauer Universität studiert.

Seit dem am 22. Oktober gefällten Urteil des Verfassungsgerichts, das selbst Abtreibungen aufgrund von schweren, nicht behebbaren, letalen embryonalen Schäden als verfassungswidrig erklärt hat, leistet Kinga so wie tausende andere Polinnen und Polen Widerstand. Viele Frauen wollen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes, das im EU-Vergleich ohnehin schon eines der restriktivsten ist, nicht hinnehmen – gleichzeitig richten sich die Proteste gegen die regierende rechtskonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der vorgeworfen wird, dass sie das Verfassungsgericht kontrolliert und das Land in einen autoritären Klerikalstaat umwandelt. Unter dem Slogan "dość" ("genug") fanden im Laufe der letzten sieben Wochen innerhalb des Landes an über 150 Orten (90 Prozent davon solche mit weniger als 50.000 Einwohner*innen) Proteste statt. Sie kulminierten in einem vorläufigen Höhepunkt am 30. Oktober, als beim Sternmarsch auf Warschau rund hunderttausend Personen aus dem ganzen Land teilnahmen. Seither ist über ein Monat vergangen, aber der Widerstand der Protestierenden lässt nicht nach.

Unruhestifter in Zivil

"Ich war beim Protest vor der Redaktion des Fernsehsenders TVP dabei. Die Polizei hat uns eingekesselt und gleichzeitig zum Auseinandergehen aufgefordert – was aber durch die Postenkette verunmöglicht wurde", berichtet Kinga. Am 19. November war es zu massiver Polizeigewalt gekommen. Es gab Augenzeug*innen-Berichte über gezielt eingesetzte Unruhestifter in Zivil, die sich unter friedliche Demonstrant*innen mischten. Kinga: "Beweise habe ich natürlich keine, aber es war schon seltsam, dass sich die Provokateur*innen dann, als es ungemütlicher wurde, plötzlich hinter den Polizist*innen verstecken konnten. Das wirkte auf mich so, als wären sie Polizist*innen in Zivil gewesen." Kinga konnte sich an jenem Tag zurückziehen, bevor es zum Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken kam. Ihre Freund*innen mussten über einen Zaun in den Hinterhof eines hilfeleistenden Anrainers flüchten.

Von Protestierenden wird das Verfassungsgericht, das das umstrittene Abtreibungsurteil fällte, in seiner aktuellen Konstellation als "Pseudotribunal" bezeichnet, da die juristisch sonst sehr strikten Regulatorien für die Bestellung von Verfassungsrichter*innen von der PiS stetig übergangen würden. "Bei der Abstimmung zur Abtreibungsfrage gab es außerdem prozedurale Irregularitäten, wie zum Beispiel die Doppelrolle der Richterin Krystyna Pawłowicz. Sie war in ihrer vorhergehenden Amtszeit PiS-Abgeordnete, unterschrieb den Antrag damals und war dann bei der Beurteilung des Vorschlags im Verfassungsgericht als Richterin dabei – und stimmte wieder dafür", erläutert Joanna Gzyra-Iskandar, Kommunikationskoordinatorin des Zentrums für Frauenrechte in Warschau.

Das ursprüngliche Ziel dieses 1994 gegründeten Zentrums ist es, Verfassungsänderungen, die zu einer Verbesserung der Situation von Frauen beitragen, zu initiieren. Mittlerweile gibt es sieben Zweigstellen in polnischen Städten, von denen aus juristische, aber auch psychologische Unterstützung geleistet sowie wissenschaftliche Informationen aufbereitet werden.

Unklare Rechtsituation für Schwangere

Das fragwürdige Urteil des Verfassungsgerichts führte sofort zu landesweitem Aufruhr, weil es de facto ein Abtreibungsverbot bedeutet. "Diese Entscheidung illegalisiert so ziemlich alle registrierten, im Spital durchgeführten Eingriffe. Es gibt Schätzungen, dass im Vorjahr in Polen 95 Prozent aller Abbrüche im Spital aufgrund von schweren Fehlbildungen durchgeführt wurden", so Joanna Gzyra-Iskandar.

Ein Folgeproblem des Urteils ist die rechtliche Grauzone, in der Pol*innen sich seither befinden. Die Kundmachung der Entscheidung im Gesetzesblatt der Republik durch die Kanzlei des Ministerpräsidenten (aktuell Mateusz Morawiecki, PiS), die normalerweise für das Inkrafttreten der Gesetzesänderung notwendig ist, steht noch immer aus – nicht zuletzt aufgrund des massiven Widerstands der Zivilgesellschaft.

Diese unklare Rechtssituation hat schwerwiegende Folgen für Patient*innen. Spitäler beginnen in Eigenregie, interne Handlungsrichtlinien zu erlassen, die besagen, dass von Schwangerschaftsabbrüchen abgesehen werden soll. "Die Situation ist paradox", bestätigt Krystyna Kacpura, Direktorin der Föderation für Frauenfragen und Familienplanung in Warschau. "Auf der einen Seite haben wir Geschrei, Wut und Protest – denn dieses Urteil hat einfach alle Frauen mobilisiert. Auf der anderen Seite eine Flut von Anrufen von verunsicherten, weinenden Frauen, die zu Hause sitzen mit Befunden in der Hand, die auf Befunde warten oder bereits von Spitälern abgewiesen wurden – und nicht wissen, was sie jetzt tun sollen. Unzählige Frauen fühlen sich übergangen, ignoriert und schlichtweg jeglicher Rechte beraubt."

Die nichtstaatliche Föderation, der Kacpura vorsteht, setzt sich seit über 25 Jahren mithilfe eines nationalen und internationalen Netzwerks an Ärzt*innen, Spitälern und helfenden Privatpersonen für sichere Abtreibung und reproduktive Rechte ein. Gemeinsam mit anderen Organisationen wie Aborcyjny Dream Team ("Abtreibungs-Dream-Team") oder Dziewuchy Dziewuchom ("Mädels für Mädels") unterstützen sie – nicht nur, aber vorwiegend – Frauen in ihrem Zugang zu sicherer medizinischer Versorgung.

Wiener "Tanten"

"Eine mit diesen Organisationen vernetzt agierende Gruppe von ehrenamtlichen AktivistInnen hat ihren Sitz in Wien. Sie heißt "Ciocia Wienia" ("Tante Wienia") und bietet Unterstützung für ungewollt Schwangere aus Polen und anderen Ländern an, initiiert Aktionen in Wien, bereitet Informationsmaterial für Medien auf und führt Diskussionen. Einen Schwerpunkt setzen sie dabei auf die Verschränkung von queerem und feministischem Aktivismus. In ihrer Betreuungsarbeit in Wien unterstützen sie cis, nicht-binäre, trans, inter, und queere Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, ihrem Rechtsstatus und Wohnsitz bei der Organisation eines Schwangerschaftsabbruchs."

Dass den Wiener "Tanten" jetzt vermehrt mediale Aufmerksamkeit zukommt, damit hatten sie nicht gerechnet. Formiert haben sie sich am 28. September 2020, und ihr Arbeitspensum wächst stetig: Denn seit dem Urteil des Verfassungsgerichts wenden sich viele Pol*innen unmittelbar an Hilfsorganisationen im Ausland.

In Polen haben sich die Proteste mittlerweile aufgrund von Kälte, zunehmender Polizeigewalt und Ausgangsbeschränkungen verkleinert, was die Teilnehmer*innenzahl angeht – aber sie reißen nicht ab. Widerstand zu zeigen – sei es durch eine Auto- oder Fahrradfahrer*innen-Blockade – scheint vielen derzeit die einzig mögliche Antwort auf eine autoritär agierende Regierung.

Taxifahrer*innen und Traktorkolonnen

Diese Haltung teilen erstaunlich viele Gruppen aus durchaus unterschiedlichen ideologischen Lagern. "Wir haben es derzeit mit den größten Protesten in der Geschichte der Dritten Polnischen Republik zu tun. Protestiert wird sogar in kleinen Dörfern, in denen statistisch gesehen überwiegend PiS-Wähler*innen wohnen", so Joanna Gyzra-Iskandar.

Sie berichtet von einer Demonstration in Warschau, bei der sich Taxifahrer*innen angeschlossen haben und bei den Straßenblockaden mitmachten. In einer Ortschaft in Pommern in der ersten Woche der Proteste sah man hinter den "Safe Abortion Now"-Schildern, die junge Frauen hochhielten, Traktorenkolonnen fahren – eine lokale Gruppe von Bauern hatte sich solidarisiert. Obwohl dieses Szenario ein Einzelfall blieb, gibt es auf der Seite des OPZZ (gesamtpolnischer Gewerkschaftsverband) mittlerweile ein offizielles Solidarisierungsstatement, welches sich klar für die Verteidigung von Frauenrechten ausspricht.

Diese ungewöhnliche, verschiedene Gesellschaftsgruppen vereinende Resonanz der Proteste ist in Polen keine Kleinigkeit und für die PiS potenziell ein massives politisches Problem. Auch die laut gewordene Kritik an der Übermacht des Episkopats ist in dieser Form neu: "Es gibt Interventionen vor und in Kirchen und während Messen – aber auf eine Art, die den Verlauf der Messe nicht stört. Jemand stellt sich mit einem Plakat, auf dem 'Nein zum Abtreibungsverbot’ steht, zum Altar. Dieses Hineingehen in eine heilige Sphäre mit einem solchen Akt ist in Polen ein absoluter Umbruch", schildert Joanna Gzyra-Iskandar.

Gründung eines Legislaturkomitees

Die Tatsache, dass ein Hauptslogan der Proteste "dość" ("genug") lautet, zeigt ebenfalls an, wie tief die Frustration bei vielen sitzt, wie akut die Unzufriedenheit ist. Das OSK (Ogólnopolski Strajk Kobiet, "gesamtpolnischer Frauenstreik") etwa – ein 2016 formiertes, überparteiliches Frauenbündnis – formuliert Forderungen, die zuallererst, aber bei weitem nicht nur Frauenrechte thematisieren. Die Verbesserung der ökonomischen Situation von Frauen, die Reformation des Gesundheitswesens, Pensionsreform, Zugang zu Bildung, die Reduktion des Einflusses der Kirche – viele Punkte stehen zur Debatte. Das OSK plant gemeinsam mit anderen Organisationen auch die Gründung eines Legislaturkomitees, das einen Reparaturplan für die Reproduktionsrechte von Frauen ausarbeiten soll. Das Zentrum für Frauenrechte wird Teil dieses Komitees sein.

Joanna Gzyra-Iskandar bezeichnet den Plan selbst als "sehr ambitioniert" und hält fest: "Das Minimalziel des Projekts ist es, zumindest eine Veränderung des Diskurses über das Abtreibungsrecht in der Öffentlichkeit zu bewirken." Derzeit werde der Diskurs von einer konservativen, religiösen und moralisierenden Sprache dominiert, sagt sie.

Überhaupt einen Raum zu öffnen für sachliche Auseinandersetzung und den Frauen selbst eine Stimme zu geben, das wäre schon ein großer Fortschritt, so die Mediensprecherin des Zentrums für Frauenrechte. Denn: "Wenn in Polen über Abtreibung gesprochen wird, sogar in einem liberalen Fernsehsender wie TVN, dann lädt ein männlicher Journalist vier Männer ein, und die debattieren dann über Abtreibung." Diese Einschätzung passt zu Krystyna Kacpuras Analyse der Debatte im Verfassungsgericht: "Die ganze Diskussion drehte sich um die ‚Rechte des ungeborenen Kindes’ und dessen Schutz. Über die Rechte der Frau wurde kein Wort verloren."

Bildungsstreik

Auf die Straße gehen nicht nur junge Erwachsene wie die Studentin Kinga. Selbst Zeitzeug*innen jenseits der 90, die einst in der Armia Krajowa (Heimatarmee) im Warschauer Widerstand gegen die Nazis aktiv waren, solidarisieren sich medienwirksam, indem sie Kirchen besetzen, und beraten das OSK. Schüler*nnen wiederum haben diese Woche den "gesamtpolnischen Bildungsstreik" ausgerufen und fordern unter anderem den Rücktritt des Bildungsministers Przemysław Czarnka sowie einen ambitionierten klimapolitischen Plan und von katholischen und nationalistischen Ideologien befreite Lehrpläne.

Joanna Gzyra-Iskandar resümiert: "Die rege Teilnahme junger Leute an den Protesten fällt sehr positiv auf. Es herrschte ein gewisses Vorurteil, dass sich unsere Jugend nicht für Politik interessiert und nur auf Tiktok abhängt. Auf einmal stellt sich das Gegenteil heraus." Sie zeigt sich überzeugt, dass die Proteste eine vollkommen neue Seite der politischen Öffentlichkeit in Polen erstarken lassen. (Julia Vitouch, 13.12.2020)