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Würde Caspar David Friedrich seine "Wanderer über dem Nebelmeer" heute so darstellen? Ironie ist übrigens eine Erfindung der Romantik.

Illustration: Heidi Seywald; Fotos: akg-images/picturedesk.com, Getty

Am deutlichsten zeichnet sich der Mentalitätswandel in den sozialen Netzen ab. Als Corona mit allen Einschränkungen, Lockdowns und Lockerungen über die Menschen hereinbrach, veränderte das vielfach das Social-Media-Verhalten: Plötzlich wurden die Kanäle mit Sentimentalität geflutet. Mit Bildern von Bergtouren, Wanderungen, Spaziergängen im Wald und um den See, bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, bei Tag und bei Nacht – ja, vor allem am Abendspaziergang, den die Ausgangsbeschränkung gerade noch erlaubt, führt kein Weg mehr vorbei.

Die neue Häuslichkeit, zu der die Seuche zwingt, trug das ihrige bei. Altes Brauchtum wird hervorgekramt, neu bewertet, geschätzt und passend gemacht. Auch die heimelige Kochkunst boomt, sogar gestandene Mannsbilder tauschen Backrezepte aus, entdecken ganz neue Welten in den eigenen vier Wänden. Andere beginnen zu malen und zu stricken, wieder andere versuchen sich an der Schriftstellerei oder nehmen Musik auf – nicht mit dem E-Verstärker, sondern mit der akustischen Gitarre: Holz ist gerade Trumpf, wie generell alles, was an Natur und Verwurzelung gemahnt.

Sind all diese durch die Pandemie künstlich erzeugten Sentimentalitäten bloß einer großen Alternativlosigkeit geschuldet und könnten genauso schnell wieder verschwinden, wie sie entstanden sind? Oder steckt mehr dahinter? Erleben wir den Triumph einer neuen Romantik? Oder ist alles narzisstische Fassade? Werden der Inszenierung in Heimat, Wald und Wiese bald schon wieder die Fotos vom Strandurlaub in Bali und vom geschäftigen Treiben in den Weltmetropolen folgen?

Altes Lied, neu gecovert

Fest steht: Das neue "Zurück zur Natur" ist natürlich kein neues Programm. Es ist das alte Lied der Romantik, das sich – über die Zeiten immer wieder frisch gecovert – auf ein Neues in den Charts festsetzt. Allen romantischen Aufwallungen gemeinsam ist ein Unbehagen an der fortschreitenden Rationalisierung, Technisierung und Berechenbarkeit der Welt. Der großen Entzauberung soll – von alten Mythen über Kapitalismuskritik bis zum Spirituellen – alles entgegengehalten werden, was einer als kalt und entfremdet empfundenen Realität widerspricht. Hinzu kommt auch das welterschütternde Ereignis, die Kollektiverfahrung, die zu einem solchen Mentalitätswandel führt.

Für die klassische Kulturepoche der Romantik (ca. 1790 bis 1900) war das die Französische Revolution. Ihr bei Rousseau und Voltaire begründetes Freiheitsstreben euphorisierte zunächst auch die deutschsprachigen Frühromantiker. Erst als sich Napoleon als Diktator entpuppte, nahm die Romantik ihre ambivalente (deutsch)nationale Wendung.

Romantik als Religion und Politik

Es ist erhellend, dieser Tage Rüdiger Safranskis Standardwerk Romantik – Eine deutsche Affäre zur Hand zu nehmen. Zwei Erkenntnisse sind darin zentral: Romantik ist die Fortführung der Religion mit ästhetischen Mitteln. Und: Romantik wird gefährlich, wenn sie von der Kunst in die Politik überführt wird.

Während Schiller und Novalis die Begeisterung für das Eigene noch nicht mit der Verachtung für das Andere verknüpften, wurde das nach 1800 anders. Kleist etwa kultivierte auf der Suche nach individualistischer Intensität den Hass, Ernst Jünger romantisierte später die Schützengräben. Die Nazis forderten schließlich eine "stählerne Romantik". Alles Schwache und Individualistische sollte weichen und eine so verratene Romantik mit dem Rationalismus der Rüstungsindustrie eine fatale Allianz eingehen.

Auch die 68er-Bewegung, die in Opposition zum Postfaschismus gar nicht romantisch sein wollte, vergaloppierte sich in der politischen (Sozial-)Romantik: Sie war nicht nur "Flower-Power" und Opposition gegen den Vietnamkrieg (das Kollektivereignis dieser Generation), sie brachte auch Terror. Und Missbrauch an den verirrten Ausläufern der sexuellen Befreiung.

Anders der romantische Zweig des New Wave der 1980er-Jahre. Unter dem Eindruck der atomaren Weltuntergangsstimmung wählte man wie die Frühromantiker die innere Emigration, nahm die Fäden der Schauerromantik auf und verknüpfte sie mit der modernen Ästhetik des Horrorfilms. Politisch flossen die romantischen Energien in die erste Ökobewegung. Deren Erben, Grünparteien und Fridays for Future, gehören nun zu jenen, die das aktuelle romantische Aufwallen mit vorbereitet haben.

"Nature Writing" und Ökokunst

Auch in der Ästhetik gibt es diesen Zug schon länger: "Nature-Writing" nennt man es in der etwas betulicheren Literatur, aktuell schwärmen aber sogar Popautoren von der kontemplativen Ruhe, die ein Corona-Lockdown mit sich bringt. Und sie beklagen das Wiederanlaufen des Hamsterrads, sobald die "Lockerung" kommt. Für so manchen bedeutet sie auch die Rückkehr von Stress.

In der bildenden Kunst dominiert überhaupt seit Jahren das Ökothema, Schamanismus, Rituale, Verrätseltes und Ironie kehren ebenso wieder. Man erinnere sich an Klagenfurt, wo 2019 ein Wald ins Fußballstadion verpflanzt wurde – ein Kunstprojekt, das es bis in den Twitter-Feed von Leonardo DiCaprio schaffte. Und wenn dieser gerade nicht als Trapper in The Revenant durch die unberührte Wildnis robbt, bildet er im realen Leben mit Greta Thunberg und Arnold Schwarzenegger so etwas wie das romantische Triumvirat dieser neuen Ökobewegung.

Falsche Propheten

Es gibt aber auch heute die Kehrseite: Identitäre stützen sich auf die völkische Romantik, Islamisten auf die religiös-politische Jenseitsverheißung, ein neues Biedermeier als österreichische Spezialität bringt Engstirnigkeit nach der Losung "My home is my castle" hervor. Und schließlich war die Romantik auch immer ein Hort falscher Propheten: Im damals inflationären Geheimbundroman wurzeln die heute populären Verschwörungstheorien.

Was also soll bleiben, wenn die rationalistische Kraftanstrengung eine Impfung hervorbringt und die Romantik wieder auf ihren Platz verweist? Unbedingt ein gehöriger Schub an Empathie im Umgang miteinander und mit der Umwelt. Und dort, wo rationale Argumente ungehört verhallen, helfen vielleicht die romantischen Bilder weiter.

Wie heißt es im Märchen vom Kleinen Prinzen so schön? "Man sieht nur mit dem Herzen gut." (Stefan Weiss, 12.12.2020)