Der Kampf um die Anerkennung führt über die Straße: Letitia Wright als Black-Panther-Anführerin Altheia Jones-LeCointe in "Mangrove".

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Keine Drogen, kein Glücksspiel und keine Prostitution, sondern Ziegen-Curry und andere Speisen für Leute, die sich nach scharfem Essen sehnen. Das Restaurant Mangrove im Londoner Stadtteil Notting Hill – damals noch kein gentrifiziertes Hochpreisviertel – wurde Ende der 1960er-Jahre zu einer beliebten Anlaufstelle karibischstämmiger Immigranten, bei der später berühmte Musiker wie Nina Simone, Bob Marley oder Jimi Hendrix bei Besuchen der britischen Hauptstadt Station machten.

Als kommunaler Ort, der kulturelles Miteinander, Austausch und Vernetzung ermöglicht, hat das Lokal eine umkämpfte Vergangenheit. In Steve McQueens Mangrove kann man mit wachsender Empörung miterleben, wie es die Polizei nicht bei Drohgebärden belässt, sondern wiederholt wie eine Horde Hooligans in das Restaurant stürmt und alles kurz und klein schlägt. Grund dafür brauchte sie keinen oder, besser, nur einen: offenen Rassismus. Die Black Community formierte sich auf der Straße, Ausschreitungen waren die Folge, 1970 kam es zum Prozess gegen die vermeintlichen Rädelsführer, die "Mangrove Nine".

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"Was ganz wesentlich ist: Dies ist ein Teil der britischen Geschichte, nicht nur der schwarzen oder westindischen", sagte McQueen dem Guardian über den Hintergrund seines Films, der in seiner vielschichtigen Perspektive auf Minderheiten seinesgleichen sucht. Die BBC gewährte dem Künstler und Oscar-Preisträger (12 Years a Slave) freie Hand für ein Projekt, das in Hinsicht von Diversität und postkolonialer Aufarbeitung des Empires kein leeres Versprechen bleibt.

Polizeitadel zur Primetime

Darüber hinaus ist Mangrove keine Einzelarbeit, sondern Teil von Small Axe, einer Anthologie aus fünf Filmen, die alle in der westindischen Community Londons der 1970er- und 80er-Jahre angesiedelt sind. Die Entscheidung für den britischen Staatssender – McQueen bestand auf BBC One, nur dann könnte es auch seine "Mum" sehen – ist eine dezidiert politische. Man muss sich nur vorstellen, der ORF gäbe eine vergleichbare Summe für eine Fernsehproduktion über Einwanderergeschichte in Österreich aus, in der Polizisten "the beast" sind.

Small Axe – der Titel geht zurück auf einen Bob-Marley-Song über das Wirken der kleinen Axt am großen Baum – gehört zum Besten, was dieses Jahr filmisch zu bieten hat. Jeder Film verführt mit anderer Sensibilität. Gemeinsam ergeben sie ein Bild der Herausforderungen eines Lebens, in dem das eigene Selbstverständnis jederzeit dadurch ausgehöhlt wird, dass man auf seine Hautfarbe reduziert wird.

Zum Beispiel wie in jener Szene aus Red, White and Blue, in der Leroy Logan (verkörpert vom Star Wars-Star John Boyega) seinen von der Polizei misshandelten Vater im Spital besucht und sich dann erst beim Lauftraining die Wut aus den Lungen schreit. Er ist dabei, selbst Polizist zu werden. Auch diese Geschichte ist wahr: Der Film veranschaulicht, wie Leroy durch seinen Idealismus in Isolation gerät, sein Vater sitzt stumm neben ihm, Freunde meiden, Kollegen schätzen ihn gering. Mit subtiler Note verwandelt McQueen die Uniform zum Symbol. Gefällt er sich anfangs in seiner feschen neuen Identität im Spiegel, starrt Leroy sie später an, als hätte sie sich wie eine Haut von ihm abgelöst.

Wie bei Black Lives Matter

McQueen, dessen Eltern selbst aus Grenada und Trinidad stammen, belässt es freilich nicht dabei, seine Figuren zu viktimisieren. Jeder der Filme stellt aus einer anderen Position heraus die Frage, wie man sich selbstständig aus der Misere befreien oder seine Bürgerrechte erringen kann. Im Beharren auf Eigeninitiative, auf der Notwendigkeit kollektiver Initiativen sind die Filme auf einer Linie mit der Politik von Black Lives Matter.

In Mangrove muss der Restaurantbesitzer Frank Crichlow (Shaun Parkes) erst davon überzeugt werden, dass der Weg über die Institutionen für ihn verstellt ist, denn niemand interessiert sich für ihn. Nachdem er mit seinen Mitstreitern der Gewalt gegen Polizisten bezichtigt wird, übernehmen sie vor Gericht die Verteidigung selbst und entzünden dadurch einen Prozess, der sonst nur dahingeglimmt wäre.

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In früheren Filmen zeigte McQueen mitunter eine Neigung zu allzu vollmundigen Gesten, Small Axe ist ein Wimmelbild voller Nuancen. Der Schmerz, die Angst und der mühsam unterdrückte Zorn sind hier Resultat poetischer Verdichtung. Alex Wheatle erzählt, wie der spätere Erfolgsautor, der als Waise in einem Heim aufwuchs, erst langsam, als er sich den Kämpfen der Brixtoner Community anschloss, zu seiner Stimme fand.

Aber nicht immer geht es um Selbstbehauptung. Lovers Rock, der künstlerisch freieste Teil, schaukelt einen durch eine lange Nacht des Tanzens. Es ist McQueens Ode auf sogenannten Blues Partys, bei der sich die Körper im Rhythmus des Dubs aneinanderschmiegen oder wild umherhüpfen. Die schönste Montage von Small Axe besteht ausschließlich aus Händen, die am Rücken oder am Po des anderen parken. (Dominik Kamalzadeh, 12.12.2020)