Küsschen! Piotr Beczała (Werther) und Gaëlle Arquez (Charlotte).

Michael Pöhn

Der zarte Schneefall bei der Hinfahrt wäre schon einmal eine ideale Einstimmung für die Oper gewesen. Und auch der Termin – zwei Wochen vor Weihnachten – hätte ganz hervorragend gepasst für eine Tragödie, die an Heiligtag damit endet, dass ein unglücklich verliebter Briefeschreiber ganz nah bei Gott sein möchte.

Und doch fehlte bei der Vorstellung von Jules Massenets Werther am Donnerstagabend in der Wiener Staatsoper eine wesentliche Sache: das Publikum. Nur eine Handvoll Musikberichterstattende mit Normaltemperatur durfte bei der Aufzeichnung der Vorstellung dabei sein, sorgsam in den hinteren Parterrelogen separiert. War das fehlende Publikum oder die große Distanz zur Bühne der Grund dafür, dass keine rechte Spannung und nur eine beschränkt intensive Verbindung zum Musikgeschehen zustande kommen wollten?

Waldmüller-Idylle

Oft hatte man das Gefühl, eine Hinterglasmalerei akustischer Art zu erleben. Dirigent Bertrand de Billy gab sich zusammen mit dem Staatsopernorchester ganz der fein gezeichneten Poesie und der kammerspielartigen Intimität hin. Emotionale Geschehnisse ereigneten sich gern querflötensanft und wurden in Pastellfarben gezeichnet.

Waren in Frédéric Chaslins dirigentischen Staatsopern-Deutungen des Goethe-Stoffs einst Sturm und Drang und lodernde Leidenschaften zentral, interessierten de Billy am Fuße von Andrei Serbans baumbeschirmter 1950er-Jahre-Provinz die Waldmüller-Idyllen mehr. Aber das mag für eine TV-Übertragung vielleicht sogar besser passen als der große Klangrausch.

Ganz schön langweilig

Die Sängerleistungen zeichneten sich durch Verlässlichkeit aus. Clemens Unterreiner beschnitt selbstlos sein Potenzial und agierte als Albert rollengemäß: ganz schön langweilig. An seiner Seite gab Gaëlle Arquez den "Engel der Pflicht" mit Namen Charlotte im ersten Akt mit einer Mischung aus Prägnanz, Energie und Beweglichkeit. Ihre kleine Schwester Sophie zeichnete Daniela Fally mit solider Frische.

Piotr Beczała wirkte bei seinem ersten Werther an der Staatsoper wie ein dreißigjähriger Maturant: zu spät gekommen. Wenig überraschend gefielen die heldischen Töne des Startenors mehr als seine lyrische Mittellage. Nach zweieinhalb Stunden hatten die Leiden des mittelalten Werther ein Ende und mit ihnen leider auch der Schneefall.

Bitte, Geduld

Interessierte werden sich bis zur Ausstrahlung dieses Werther gedulden müssen (10. 1. 2021 um 20.15 Uhr auf ORF III). Es naht allerdings Trost: Am Sonntag ist Anna Netrebko (20.15 Uhr auf ORF III) in Puccinis Tosca zu erleben. Und am Montag wird Hans Werner Henzes Das verratene Meer (19.30 Uhr auf Ö1) zu hören sein. Die erste echte Premiere der neuen Direktion. (Stefan Ender, 12.12.2020)