Neues Wiener Journal vom 17. Dezember 1919

Meine Séancen mit dem Hellseher Siegfried Kann
von Klothilde Benedikt

Durch den geistvollen Artikel über die verloren gegangene Kunst der Physiognomik im "Neuen Wiener Journal" und durch ein Straßenbahnabenteuer ist der Fabrikleiter Siegfried Kann plötzlich an das Licht der Oeffentlichkeit gerückt worden, nachdem er seit einer Reihe von Jahren in aller Stille über 40.000 Personen aller Stände, darunter die gewesene Erzherzogin Isabella, als Hellseher "in Arbeit" genommen hatte. Kann hat nämlich einem Tramwayfahrgast angesehen, daß er sich mit Mordplänen gegen die Gattin trage, was ihm dieser in der ersten Bestürzung auch zugab. So wenig die zu Ermordende Mitleid verdienen mag, hat Kann auf meine Veranlassung eine Präventivanzeige erstattet, da ich weder Anhängerin des modernen Tue-la (?), noch der alttestamentarischen Steinigung für Ehebrecherinnen bin.

Ich habe nunmehr als vollkommen ungläubige Skeptikerin in mystischen Dingen sechs Seancen mit Kann vorgenommen, und zwar an verschiedenen, ihm bis dahin unbekannten Orten und mit Medien, die ich ihm nicht vorgestellt habe. Ueber fünfzig lebende Personen und ungefähr dreißig Porträts längst Verstorbener hat er vor mir geistig seziert. Nur in einem Falle einer ziemlich unbedeutenden männlichen Persönlichkeit hat Kann versagt; er gesteht selbst, daß ihm Frauen mit ihren stärkeren und mehr an die Natur gebundenen Innenleben besser gelingen als Männer, ältere Leute eher als jüngere. Trotzdem hat er den sechzehnjährigen Enkel eines Zeitungsherausgebers, wohl einen Jüngling von bedeutender Zukunft bis in das kleinste Detail seiner noch in voller Gärung befindlichen kindlichen Seele, ja bis auf die Stunde und Jahreszeit seiner Geburt und die Empfindungen darzulegen gewusst, die seine Mutter beseelt haben, als sein Leben erschaffen wurde.

Ueberhaupt hat sich Kann die Menschen in drei Kategorien zurechtgelegt, in solche, die beide Eltern ersehnt haben, solche, bei denen nur der eine Teil dies tat – wobei er sofort erraten kann, ob es der Vater oder die Mutter war – und solche, die sozusagen zufällig auf die Welt kamen. Temperamente und Anlagen und die dadurch geschaffenen Lebensschicksale dieser drei Kategorien sollen sich scharf unterscheiden, denn 'in der Brust sind deines Schicksals Sterne'. Aber nicht nur die Zukunft derjenigen Personen, deren Hand er in der seinigen hält, weiß Kann aus dem Rhythmus des schon Erlebten abzuleiten; er ist auch imstande, die Persönlichkeiten genau physisch und psychisch zu schildern, die auf das Schicksal des Betreffenden Einfluß genommen haben. Auch diese Art der Geisterseherei kann ich mir mit einer ins Unendliche verfeinerten Kunst der Mienenleserei erklären. Unerklärlich bleibt mir, daß Kann sofort einem Bilde ankennen will, ob der Betreffende noch am Leben weile. Bei meinem ersten Experiment legte ich ihm 52 Männerbildnisse mit der Bemerkung vor, drei davon seien tot. Mit blitzartiger Geschwindigkeit fand er die drei heraus, darunter die Hünenerscheinung des Laryngologen Koschier, dem sein Arzt damals noch die Todkrankheit angesehen hatte. Ebenso findet Kann heraus, wer, wenigstens nach dem Urteil der Mitwelt, der schöpferischste unter den Photographierten ist, und äußerst unwillig, wieso das Bild eines Ausbeuters und Geschäftsmannes in meine Kollektion komme. Dieser Mann ist wohl Professor, sein Ruf entspricht aber dem Urteil diese medizinischen Laien.

Ich hatte unter anderem Kann eine hochinteressante und komplizierte Persönlichkeit vorgeführt, die er, ohne eine Ahnung zu haben, wer der Betreffende sei, ungemein fein porträtiert, so daß das skeptische Medium glaubt, ich sei die Verräterin gewesen. "Ein Todeskandidat in nächster Zeit", hatte mir Kann diktiert, dessen Porträts ich wörtlich auf seinen Wunsch nachschrieb. Drei Wochen darauf muß ich leider den Nekrolog des Mannes schreiben und füge nur den biographischen Daten des Lexikons Kanns Skizze an. "Ist Ihnen aber einmal ein Nekrolog besonders gelungen", sagt sein sonst sehr kritischer Chef kopfschüttelnd. Einer äußerst glücklichen und erfolgreichen Künstlerin sagt Kann: "Sie haben vor vierzehn Tagen einen schweren Schicksalsschlag erlitten", und unter Tränen gesteht die Dame: "Wieso wissen Sie, daß ich soeben in Berlin die größte berufliche Gemeinheit in meinem Leben erfahren habe?"

Nimmt Kann einen Lebenden oder Toten in Arbeit, so entsteht eine gewisse 'Besessenheit' in ihm, denn er muß, wenn auch in höflicher Form, die Wahrheit sagen, mag sie noch so verletzend oder erschütternd sein. Nach jeder Untersuchung gerät er in Erschöpfungszustände, die um so ärger sind, als das Medium ein ausgeprägter und bedeutender Charakter ist; Magen und Herz werden auf das peinlichste affiziert. Aber auch sonst bringt die Fertigkeit, die Kann bisher als Art Gesellschaftsspiel oder zu wohltätigem Zweck ausgeübt hat, wenig angenehmes, soweit ich beobachten konnte; sobald das Bild ihnen unbequem wird, leugnen die Medien ganz unbestreitbare, auch mir an ihnen bekannte Richtungen und Tatsachen; andere, namentlich junge Gelehrte, gaben wohl in der ersten Ueberraschung das Stimmende zu, weigerten sich aber, Lob oder Anerkennung auszusprechen, mit jener Verbohrtheit des gebildeten Menschen, der Tatsachen nicht anerkennt, die er nicht zu begreifen vermag. Kann ist aber von der wohltätigen Einwirkung seiner ihm von früher Kindheit innewohnenden Fertigkeit so überzeugt, daß er sie trotzdem weiter ausüben wird, wozu er übrigens seelisch gezwungen ist, wenn er Menschen gegenübertritt, die ihn interessieren.

Neuigkeits Welt Blatt vom 17. Dezember 1919

Bilder aus dem sterbenden Wienerwald

Viele Wiener tragen sich heute mit dem Gedanken, schnell noch einmal hinauszufahren in ihren schönen, nun dem Untergang geweihten Wald. Und wahrhaftig, wer an vielen Stellen noch einmal die Herrlichkeit der Natur bewundern will, muß sich beeilen, denn die Verwüstungen nehmen ihren Fortgang im Eilzugstempo.
Einer unserer Zeichner weilte dieser Tage in dem Gebiet bei Hütteldorf und die mitgebrachten Skizzen, die das obige Bild veranschaulicht, sprechen Bände. Wie man dort wütet, zeigt das Bildchen in der linken oberen Ecke. Man sieht einen 'angerissenen' Baum hart am Wegrand, der zugleich eine stete Gefahr für die Vorübergehenden bildet. Daneben ist im Bild eine vollkommen abgeholzte Berglehne ersichtlich. Die prächtige Allee, die hir zur 'Knödelhütte' führte, ist - gewesen.
Ein anderes Bildchen zeigt die Gefahren bei der unsachgemäßen Abholzung und schließlich die Holzträger bei der Endstation der 'Elektrischen' in Hütteldorf.
Es sind 'Elendsbilder' aus der jetzigen 'Elendszeit', die den Wienern auf Menschenalter hinaus ein kostbares Gut raubt: ihren lieben, schönen Wald.

ANNO | Österr. Nationalbibliothek

Salzburger Chronik für Stadt und Land vom 17. Dezember 1919

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(Kurt Tutschek, 17.12.2020)

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