Wo endet Israel-Kritik und wo fängt Antisemitismus an?

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Bisher herrschte in Deutschland ziemliche Einigkeit gegenüber der israelkritischen Kampagne BDS. Das Kürzel steht für "Boykott, Desinvestment und Sanktionen" und fordert dazu auf, Israel für seine Palästinenserpolitik politisch, wirtschaftlich und kulturell zu isolieren. Künstler und Intellektuelle wie der kamerunische Philosoph Achill Mbembe, die BDS unterstützen oder offen eine israelkritische Meinung vertreten, wurden zuletzt von Festivals wie der Ruhrtriennale ausgeladen – unter anderem aus dem Grund, weil der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung es forderte.

Jetzt verbreitet sich in Deutschland aber eine Gegenströmung. Am Donnerstag haben in Berlin 30 Kulturinstitutionen wie das Humboldtforum, das Haus der Kulturen der Welt, die Münchner Kammerspiele, aber auch das Jüdische Museum Hohenems aus Vorarlberg ein Plädoyer vorgestellt, das warnt, in der Öffentlichkeit würden durch "missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt". Das sei "für eine demokratische Öffentlichkeit abträglich". Denn Kunst brauche Räume, die abweichende Positionen zulassen.

Der Name "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" spielt auf den Artikel 5 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes an, der die Freiheit von Kunst und Wissenschaft festschreibt. Diese sieht man speziell durch eine Resolution des Bundestags von 2019 bedroht, die der weiten Definition der International Holocaust Remembrance Alliance folgt, dass nicht nur klar antisemitische Handlungen zu verurteilen seien, sondern auch "Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert werden". Diese Definition geht aber selbst Juden zu weit, da so auch berechtigte Kritik an der Siedlungspolitik pauschal abgeschmettert werden kann.

Prinzip und Praxis

Natürlich positioniert sich auch die neue Initiative gegen Antisemitismus und verurteilt grundsätzlich das harsche Vorgehen des BDS. Aber sie stellt die Frage nach den Grenzen des Vertretbaren und Sagbaren neu. Denn die Boykottaufrufe – ähnlich wie bei der zu Rassismus und Sexismus florierenden Cancel-Culture – treffen eben viele recht voreilig.

Es geht der Initiative dabei nicht nur ums Prinzip, sondern letztlich auch um ganz praktische Fragen: Wenn jemand wie der auch in Deutschland bereits ausgezeichnete Mbembe, der sich in seinem gesamten Schaffen nur minimal über Israel geäußert hat, bereits Persona non grata ist, wie kann man dann noch Programme planen? Diskussionsrunden? Wie intensiv muss man Künstler überprüfen, ehe man sie einladen kann, ohne Proteste auszulösen? Es geht um die Möglichkeit freier Kontroverse und um die Gefahr von Selbstzensur aus Sorge vor Shitstorms, staatliche Fördergelder, Vertragsverlängerungen.

Situation in Österreich entspannter

Hanno Loewy, Leiter des Jüdischen Museums Hohenems, kennt viele diesbezügliche Fälle aus Deutschland: von Choreografen, Vereinen, Museen. Er räumt im Gespräch mit dem STANDARD aber ein, dass die Situation in Österreich weniger angespannt ist. Trotzdem hat er sich als einziger heimischer Unterzeichner der Initiative angeschlossen, weil er manche Entwicklungen auch hierzulande dämmern sieht. So weiß er von Leuten in der türkisen Fraktion im Nationalrat, die eine Resolution wie in Deutschland verabschiedet sehen wollen.

Zudem stehe das Bekenntnis zu einem "jüdischen Staat Israel" bereits im Regierungsprogramm. Jede Diskussion, ob dieser Staat ein ethnisch neutraler Staat seiner Bürger sein könnte, wie es bei einer wirklichen Demokratie eigentlich sein müsste, stehe damit schon pauschal unter Antisemitismusverdacht.

Passender Zufall

Es ist Zufall, aber lässt sich als Wasser auf die Mühlen der Initiative lesen, dass jetzt auch die Debatte um die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart neu aufgeflammt ist, der immer wieder Antisemitismus vorgeworfen wird. Als sie letzte Woche im Literarischen Quartett des ZDF zu Gast war, schrieb der Autor Maxim Biller in der Süddeutschen Zeitung über ihre "sehr blonde HJ-Frisur" und einen ",Nazi-Domina-Look". Der frühere Gastgeber Marcel Reich-Ranicki, wie Biller jüdisch, habe nun "endgültig den Kampf ge gen die Nazis verloren". Für seine Worte wurde Biller heftig kritisiert. Nicht zuletzt von Autorenkollegin Eva Menasse, die sich per Zeit über dessen gern benutzte "Nazi-Keule" und den Antisemitismusvorwurf gegen eine Kunstfigur empörte.

BDS-Gegner sind von der Initiative GG 5.3 empört – obwohl weder die Resolution des Bundestags rechtlich bindend ist noch das nunmehrige Statement etwas verordnet.

Die Initiative will nicht Antisemiten rehabilitieren, sondern bloß harte Fronten auf ein diskursförderndes Maß erweichen. (Michael Wurmitzer, 11.12.2020)