Wir befinden uns im Jahr eins nach Corona. Ganz Österreich ist von eifrig Trainierenden durchsetzt. Ganz Österreich? Nein. Eine von unbeugsamen Bürokraten bevölkerte Millionenstadt hört nicht auf, dem Spitzensport Widerstand zu leisten.

Genau so sehen das die Wiener Schwimmer, Schwimmerinnen und Wasserspringer, -springerinnen. In Wien gibt es Wasser ohne Ende, und doch sitzen alle auf dem Trockenen. Selbst wer Weltklasseformat hätte oder hat, kann in der Bundeshauptstadt seit Lockdownbeginn am 3. November nicht mehr trainieren. Die temporäre Halle im Stadionbad? Geschlossen! Das Stadthallenbad? Geschlossen! Für den Publikumsbetrieb sowieso – aber auch für die Elite.

Hauptbecken und Sprunganlage in der Wiener Stadthalle. Menschenleer. Wie auch das zweite Becken in der Stadthalle und jenes im Stadionbad.
Foto: Christian Fischer

Dabei sollte Spitzensport laut der Anfang November ausgegebenen Verordnung des Gesundheitsministeriums weiterhin möglich sein. Siehe Paragraf 9, Punkt 3. Da heißt es, dass Spitzensportler und -sportlerinnen vom Betretungsverbot der Sportstätten ausgenommen seien.

Aber Wien ist anders. Anders als etliche Bundesländer, in denen die Bäder für den Spitzensport sehr wohl geöffnet haben, etwa die 50-m-Hallen in Graz und in Linz. Da und dort herrschen sogar fast Idealzustände, bessere Bedingungen als zu "Normalzeiten". Ohne Publikumsbetrieb findet die Elite so viele Bahnen und Trainingszeiten vor, wie sie braucht. "Diese Ungerechtigkeit schreit zum Himmel und ist unbegreiflich. Nur in Wien ist die Situation eine einzige Katastrophe", sagt Kurt Dittrich, der selbst olympisch geschwommen ist (1980, Moskau), später Lehrer und Schwimmtrainer wurde.

Chor und Chauffeure

Dittrichs Stimme ist eine von vielen in einem immer größer und lauter werdenden Chor der Empörten. In Wien geht (fast) gar nichts. Allein im Olympiastützpunkt Schmelz wird stark eingeschränkt geschwommen, freilich auf der Kurzbahn. Ansonsten müssen Wiens Spitzenschwimmer und -schwimmerinnen ins Bundesleistungszentrum Südstadt ausweichen, wo sie nur von 19 bis 21 Uhr ihre Längen ziehen können. Eltern hoffnungsvoller Talenten, die international schon aufgetaucht sind, spielen außer Chauffeur nur noch Chauffeur.

Wenn man sich umhört in diesem Chor, fällt immer wieder ein Name. Sandra Hofmann. Sie ist als Geschäftsführerin der Wiener Sportstätten Betriebsgesellschaft m. b. H. (WSB) für das Stadthallen- und das Stadionbad zuständig, wo Leistungsschwimmern seit Jahren ab Herbst eine temporäre Traglufthalle zur Verfügung steht. Hofmann ist dafür verantwortlich, dass diese Trainingsstätten ausnahmslos geschlossen sind. Schuld daran ist sie, so singt es der Chor. Dittrich: "Sie könnte aufsperren. Sie tut es nicht."

Trainer Dittrich: "In Wien ist die Bädersituation katastrophal."
Foto: privat

Der Wiener Sport, das hört man seit Jahren von vielen Verbänden und Vereinen, hat es nicht leicht mit Sandra Hofmann. Sie leitete von 2005 bis Ende 2011 das Wiener Sportamt (MA51), führte dann gemeinsam mit Wolfgang Fischer die Geschäfte der Wiener Stadthalle, ehe sie 2013 an die Spitze der Sportstättengesellschaft wechselte. Hofmann, heißt es, ziehe kompromisslos ihre Linie durch, lasse auch die besten Argumente nicht gelten, und vor allem sei sie kaum erreichbar. Manche warten seit Monaten auf einen Termin bei Hofmann oder auf einen Rückruf von ihr.

Hofmann: "Grauzone"

Auch DER STANDARD hat Probleme, die WSB-Leiterin zu erreichen. Zunächst wird mitgeteilt, sie dürfe wegen einer angeblichen Weisung aus dem Hacker-Büro nicht selbst Stellung nehmen. Dann will sie Fragen per E-Mail beantworten. Schließlich ist sie doch zu sprechen. Auf keinen Fall will sie ein Bild von sich veröffentlicht sehen.

Hofmann hat Jus sowie Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert, ist doppelte Doktorin, hat dazu noch einen Bachelor (Energietechnik). Mit den Verordnungen des Gesundheitsministeriums hat sie sich intensiv auseinandergesetzt, auch mit jener von Anfang November. Resultat? "Es gibt ein unglaubliches Gefahrenpotenzial, das kann man nicht ignorieren." Damit spricht Hofmann die Corona-Pandemie an und das Risiko, sei es auch klein, dass es unter den Schwimmern zu einem Cluster kommt. "Es gibt eine rechtliche Grauzone", sagt sie. "Und ich kann meinen Mitarbeitern nicht aufbürden, dass sie vielleicht haftbar gemacht werden." Im frühen Herbst habe ein Verein tagelang den Fall eines positiven Sportlers verschwiegen, auch damit begründet Hofmann ihre Sorgen.

Die Grauzone ist laut Hofmann an der Verordnung von Anfang November festzumachen. Diese hat nämlich viele Paragrafen und neben jenem mit der Nummer neun, der Spitzensport ermöglicht, auch jenen mit der Nummer zwölf. Laut diesem ist das Betreten von Bädern "untersagt". Hofmann argumentiert, dass in ihren Augen und denen ihrer Experten im Streitfall der Paragraf zwölf den Paragrafen neun quasi stechen würde."Niemand will dem Sport etwas in den Weg legen", sagt sie, "schon gar nicht ich." Und am liebsten wäre ihr, "wenn wir nach Weihnachten für alle wieder aufsperren".

Köche und Brei

Sportamtsleiter Richter hofft auf eine baldige Lösung.
Foto: VOTAVA/PID

Die WSB ist 2013 eigens gegründet und an den Wien-Holding-Konzern angegliedert worden. Das Stadthallenbad fällt somit in die Zuständigkeit von Finanzstadtrat Peter Hanke (SPÖ). Aber nicht nur. Denn um die Bäder ganz allgemein kümmert sich der Bildungsstadtrat, seit kurzem also Christoph Wiederkehr (Neos). Und der Sport wiederum liegt in den Händen von Sportstadtrat Peter Hacker (SPÖ) sowie in den Händen des Ex-Fechters Anatol Richter, der 2012 von Hofmann die Leitung des Sportamts (MA51) übernahm. Bei so vielen Köchen und Köchinnen, tönt der Chor, kann es um den Brei nicht gut bestellt sein.

Sportamtsleiter Richter hofft auf "eine baldige Lösung". Sie könnte darin bestehen, dass die WSB die Halle im Stadionbad aufsperrt, dass aber die Abläufe im Inneren der Halle beispielsweise der Wiener Schwimmverband verantwortet. Das könnte die WSB aus einer etwaigen Haftung nehmen. Und das Stadthallenbad? Es nur für den Spitzensport zu öffnen, wäre enorm kostspielig, sagt Richter. "Das ist ein riesiger Gebäudekomplex. Hier das Gesamtsystem hochzufahren, wäre wirtschaftlich ein bisserl crazy."

Ab 17. Dezember findet in Graz ein großes Einladungsturnier statt, das Anoroc-Meeting (Anoroc von hinten lesen!). Da werden die Wiener Schwimmer aufgrund ihres Trainingsrückstands wohl etwas weniger Erfolge als sonst einheimsen. Natürlich gibt es größere Probleme, etwa die Tatsache, dass aktuell viele Kinder nicht schwimmen lernen. "Wir verlieren ganze Jahrgänge", sagt Kurt Dittrich, der Trainer. "Wir verlieren den Anschluss." (Fritz Neumann, 12.12.2020)