Wien – Johanna Vaniceks Traum ist geplatzt. Ihr ganzes Leben hat sich die gelernte Schneidermeisterin auf die 300-Jahr-Feier der Schwäbischen Jungfrau gefreut. Im Theater in der Josefstadt hätte sie das Jubiläum gern begangen, wenn dieses nicht so kostspielig wäre. Das Rathaus wäre ein nicht minder würdiger Rahmen gewesen, sinniert die betagte Dame. Allein, Corona hat das Fest im Herbst im Herzen Wiens zunichtegemacht. "Soll ich riskieren, dass noch mehr Leut’ ins Spital müssen?"

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An Kaufkraft scheint es nicht zu fehlen.
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82 Jahre ist Vanicek alt und mit ihrem Geschäft für erlesene Tisch- und Bettwäsche eine Wiener Institution. Vor gut 60 Jahren hat sie die Werkstätten und den Verkauf am Graben übernommen. Auch Corona hält sie nicht davon ab, in der "Jungfrau" auf drei Etagen nahezu täglich nach dem Rechten zu sehen, obwohl sich der Sohn um sie sorgt. "Ich stehe halt immer noch so gern mit einem Bein im Geschäft."

Keinen Tag länger hätte sie den Traditionsbetrieb im Dezember geschlossen halten wollen, betont die rüstige Seniorchefin. Denn sie vermisse ihre Kunden. 120 unter ihnen hat sie jüngst persönlich Briefe geschrieben. Nur die nach Fotos jagenden Touristen fehlen ihr nicht so sehr. Nach dem achten Selfie in ihrem Geschäft, ohne dass einer nur eine Winzigkeit kaufte, habe sie sich einmal erlaubt zu sagen, dass sie kein Museum führe.

"Dankbar für jeden Tag"

Die Wiedereröffnung des Handels nach dem Lockdown brachte Vanicek keinen großen Zulauf. "Wir sind aber dankbar für jeden Tag, an dem wir wieder verkaufen dürfen." Sie habe Bombenangriffe auf Wien miterlebt, Hunger gelitten. Da werde sie auch diese Krise meistern. "Solange alle zusammenhalten." Ein bisserl Disziplin fordert sie freilich ein. Jüngst rügte sie einen Mann, der die Maske vom Gesicht zog, um Lebensmittel anzuhusten. "Manche Leut’ sind so unvernünftig."

Eine knappe Woche ist es her, dass in Österreichs Handel ein Stück weit Normalität zurückkehrte. Virologen fürchteten Horrorbilder aus Shoppingcentern und Einkaufsstraßen: Menschen, die sich Schulter an Schulter vor Geschäften anstellen, sich um Aktionsware reißen und an den Kassen zusammenströmen.

Eng wurde es in der Hitze des Gefechts mancherorts wohl. Vom prophezeiten großen Ansturm blieb das von Covid-19 gebeutelte Land vorerst jedoch verschont.

Wenige Brennpunkte

Abseits der Brennpunkte des Konsums fanden sich Kunden im Handel zögerlich ein. Kurze gezielte Wege ersetzten ausgedehnte Bummel. Kleine Geschäftsstraßen blieben verwaist. War der Neustart des Handels das Risiko einer neuen Infektionswelle überhaupt wert?

"Wir haben offen, was aber keinen wirklich interessiert." Andrea Wunderl zieht nüchtern Bilanz. Mit ihrem Schuhgeschäft in Sollenau sind sie und ihr Mann unter den letzten Einzelkämpfern einer Branche, die es schon vor der Krise "nicht gerade lustig" hatte. Die Wochen vor der Schließung des Handels kamen für die Niederösterreicherin einem Lockdown gleich. "Ohne Gastronomie, Kultur, Dates – wer kauft da neue Schuhe?"

Wunderl zählt derzeit die Hälfte weniger Kunden als üblich. Gefahr, dass sich diese auf den 400 Quadratmetern ihres Geschäfts gegenseitig auf die Füße treten, habe nie bestanden. Wenn jemand seine Gesundheit aufs Spiel setze, dann jene, die trotz der Ausgangsbeschränkung nachts betrunken durchs Grätzel zogen.

"Wir haben offen, was aber keinen wirklich interessiert. Ohne Gastronomie, Kultur, Dates – wer kauft da neue Schuhe? "
Händlerin Andrea Wunderl

Corona ließ sich im November nur langsam einbremsen. Die Infektionszahlen blieben hoch. Und mit den letzten Adventsamstagen steigt die Gefahr geballter Menschenmengen erneut. Kam der Tag der Wiedereröffnung des Handels zu früh? Wogen wirtschaftliche Wünsche vor Weihnachten schwerer als medizinische Bedenken?

8. Dezember auf der Wiener Mariahilfer Straße: Der Handel will Umsatz, aber nicht zu viele Kunden. Es ist ein Balanceakt.

"Das ist die Gretchenfrage", sagt Rainer Trefelik, Handelsobmann in der Wirtschaftskammer, und spricht von einem kaum zu bewältigenden Spagat. Die Alternative zum 6. Dezember wäre gewesen, wie Gastronomen einen Monat später zu öffnen. Denn mit jeder Woche, mit der die Regierung die Rückkehr in alte Einkaufsgewohnheiten weiter hinauszögert, ließen sich die Kundenströme schwerer entzerren.

Förderpaket fürs Internet

Was für Trefelik gegen weiteren Stillstand spricht: "Dieser wäre ein reines Förderpaket für den Internethandel." Kunden wären zu Onlinekäufern erzogen worden. Für stationäre Geschäfte seien sie damit verloren. "Zu den Wirten geht man immer. Sperren Händler zwei Monate zu, verkaufen sie sich ans Netz."

110 Millionen Euro kostete den Handel jeder geschlossene Tag im Frühjahr, erhob Ernst Gittenberger, Handelsforscher an der Kepler-Universität Linz. 80 Millionen waren es, nachdem kleine Geschäfte aufsperren durften. 130 verlor er im November. Und auf 150 Millionen Euro würden die täglichen Einbußen bei einem bis in den Jänner hineinreichenden Lockdown anschwellen, zeigen seine Berechnungen.

In dieser Zeit erlebt das Weihnachtsgeschäft seine Blütezeit. Branchen wie der Spielwaren- oder Schmuckhandel verbuchen hier ein Drittel bis zur Hälfte ihres Jahresumsatzes. Federt der Staat den Betrieben ihre Einbußen weiterhin ab, sprenge das jeden budgetären Rahmen. Trefelik: "Das können wir uns nicht leisten."

Künstliche Lebensverlängerung

Dreht die Regierung den Geldhahn jedoch zu, droht eine Welle an Insolvenzen. Schon jetzt wird das Leben etlicher maroder Unternehmen allein durch großzügige Hilfen künstlich verlängert. Der Handel ist Arbeitgeber einer halben Million Menschen. Tausende unter ihnen bangen um ihren Job.

Das Grundproblem des Handels löst sich mit seiner Wiederauferstehung allerdings nicht: Ohne Wirte, Weihnachtsmärkte und Touristen sieht er alt aus. Die Frequenz in Einkaufscentern ist zumeist zur Hälfte der Gastronomie geschuldet. Wer in Restaurants seiner Filialen keine günstigen Schnitzel mehr offeriert, kann sich von gut einem Viertel der Kunden verabschieden. Maske, Desinfektionsspray und Security-Personal lassen einen nicht gerade ausgelassen Shoppen. Attraktive Angebote im Internet nahmen viele geplante Ausgaben ohnehin vorweg. Dem Marktforscher IFH Köln zufolge hat sich das Wachstum des Onlinehandels im Corona-Jahr verdoppelt.

Neidvoller Blick zu Wirten

Schon vor dem Lockdown haben sich nur wenige Kunden in ihre Boutique verirrt, erzählt eine junge Textilhändlerin im Donauzentrum, einem der größten Einkaufscenter Österreichs. Dieser Tage laufe das Geschäft noch flauer. "Wer sitzt im Homeoffice mit neuem Gewand?"

Sie beneide die Gastwirte, gesteht eine Branchenkollegin in der Wiener Innenstadt ein. Würde der Staat ihr zuerst 70 Prozent, dann die Hälfte des Umsatzes ersetzen, sperre sie ihren Shop glatt wieder zu. Eine Unternehmerin in der Wollzeile stellt sich auf eine finanzielle Durststrecke bis Ostern ein.

Die Erwartungen der Händler für Dezember waren nicht hoch, zieht Trefelik Bilanz. "Sie wurden deutlich untertroffen. Nun geht es darum, Schaden zu begrenzen."

Auch wenn die Geschäfte derzeit mehr schlecht als recht laufen – für Rainer Will, Chef des Handelsverbands, hätte an der Lockerung des Lockdowns kein Weg vorbeigeführt. "Kleine Betriebe müssen jetzt aufsperren, weil sie keine Liquidität mehr haben, große, weil die Staatshilfen für sie ins Leere laufen."

"Es kann nicht sein, dass Tausende in ein Möbelhaus pilgern, um dort ein Grillhendl um 1,50 Euro zu ergattern."
Unito-Chef Harald Gutschi

Will erinnert daran, dass gutgemeinte Unterstützung wie der Umsatzersatz für November zu spät fließe. Für mittelständische Unternehmen sei er ein Tropfen auf dem heißen Stein: Denn die bei 800.000 Euro gedeckelte Umsatzkompensation bringe ihnen lediglich Zuschüsse im einstelligen Prozentbereich.

6500 Händler seien akut in ihrer Existenz gefährdet. Ein Fünftel sei nicht mehr in der Lage, die doppelten Weihnachtsgehälter rechtzeitig zu stemmen. Jeder vierte könne einen Teil seiner offenen Rechnungen nicht pünktlich begleichen. Und unzählige Kleinstunternehmer sähen sich außerstande, sich selbst ein Gehalt auszubezahlen. Was Mieten betrifft, wären Hauseigentümer vor allem in den Einkaufscentern finanziell wenig entgegenkommend.

Händlern fehlt Liquidität. Rabatte verschaffen schnelles Geld und damit zumindest kurzfristig Luft.
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Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer, lässt keinen Zweifel daran, dass die Händler nicht scharenweise zugrunde gehen dürfen. Vor allem Kleine gehörten gerettet, um Wettbewerb zu erhalten. "Sonst teilen sich drei Große 90 Prozent des Marktes auf."

Das allem übergeordnete Ziel sei jedoch, die Gesundheitslage in den Griff zu bekommen, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Je länger die Pandemie währe, desto größer sei der langfristige volkswirtschaftliche Schaden. Österreich habe Corona nach wie vor nicht im Griff.

Die Krisenhilfen sind dem Ökonomen zu ineffizient und breit gestreut. Er rät zum Blick nach Deutschland, wo Geld gezielter eingesetzt werde und Kurzarbeit wie Fixkostenzuschuss gegengerechnet werden.

"Österreich wirft mit doppelten Förderungen Steuergeld beim Fenster hinaus." Die Folge sei, dass einzelne Betriebe sehr gut daran verdienten. Für Marterbauer wäre ein Teil dieses Geldes besser bei armutsgefährdeten Selbstständigen und jungen Arbeitslosen aufgehoben. "Wir müssen ein stärkeres Augenmerk auf die Folgen der Krise legen."

Mit dem Virus leben lernen

Für Harald Gutschi, Chef des österreichischen Onlinehändlers Unito, hat Österreich hingegen bereits das Schlimmste überstanden. "Wir werden 2021 die größte Wiederauferstehung der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg erleben. Ab dem zweiten Quartal geht es aufwärts, davon bin ich zutiefst überzeugt."

Als Internethändler hat er von den geschlossenen Geschäften stark profitiert. Dennoch hält es Gutschi für hoch an der Zeit, dass wieder Leben in stationäre Geschäfte zurückkehrt. Der Handel müsse mit dem Virus leben lernen. Es brauche daher härtere Kontrollen und Strafen. "Es kann nicht sein, dass tausende Österreicher in ein Möbelhaus pilgern, um dort ein Grillhendl um 1,50 Euro zu ergattern." Die Industrie schaffe es, mit Corona umzugehen. Für sie sei die Krise wirtschaftlich gegessen. "Warum sollte das nicht auch dem Handel gelingen?"

Keine Geschenke

Rabattschlachten im Handel seien betrüblich, stimmt Gewerkschafter Karl Dürtscher zu. Aber auch er hält den Zeitpunkt der Wiedereröffnung der Geschäfte für richtig. "Es gibt keinen Hinweis auf Clusterbildung im Handel." Bisher habe dieser weder für Mitarbeiter noch Kunden eine große Gefahr für Ansteckungen dargestellt.

Geschenke werden die Österreicher den Händlern heuer vor Weihnachten keine machen. Ihre Haushaltseinkommen sind im Schnitt leicht gesunken, ihre Sparquote hat sich verdoppelt.

Wolfgang Richter, Chef der Regiodata, sagt den stationären Händlern ein Minus im Weihnachtsgeschäft von 30 Prozent voraus. Diese hätten aber auch ohne Corona weniger umgesetzt. "Der Handel leidet unter Vorerkrankungen." Nicht nur grabe das Internet Absatz ab, auch änderten sich die Konsumgewohnheiten. Appelle der Politik, lokal zu kaufen, verhallten dabei über kurz oder lang ungehört, glaubt der Marktforscher. "Niemand kauft aus Mitleid."

Die Schuhhändlerin Wunderl hat Corona jedenfalls Nervenstärke gelehrt. "Ein wenig Übung mit der Krise bekommt man doch." Wer über Händler schimpfe, in der Annahme, dass sich diese zulasten der Gesundheit goldene Nasen verdienen, verkenne die Realität, sagt sie. "Viele Kleine sind Idealisten, die einfach nur ihre Mitarbeiter bezahlen und überleben wollen." Trotz schmaler Absätze ist Wunderl froh, nicht bis in den Jänner hinein Sperrstunde zu haben. "Es wäre Wahnsinn. Die Leute drehen allein daheim ja langsam durch." (Verena Kainrath, 13.12.2020)