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STANDARD: Fünf Jahre sind seit der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens vergangen. Was hat sich seither getan?

Steurer: Einerseits sind die Emissionen weiter gestiegen, andererseits haben manche Staaten ihre Klimaziele nachgebessert. Die wichtigste Entwicklung sehe ich in der Gesellschaft – seit 2019 durch Fridays for Future.

STANDARD: Seit dem Corona-Ausbruch wurde es allerdings ruhiger um die Bewegung.

Steurer: Sie ist natürlich in den Hintergrund gerückt. Das ist aber nicht verwunderlich, weil gerade ein noch akuteres Thema dominiert. Die Klimakrise wird aber nicht weggehen, im Gegenteil. Die Bewegung wird also früher oder später stark zurückkommen.

STANDARD: Die Corona-Krise wird regelmäßig mit der Klimakrise verglichen. Gibt es Parallelen?

Steurer: Ja. Beide Krisen zeigen, dass die Verleugnung und Verharmlosung von Fakten tödlich ist. Wer sich an einzelnen Irrmeinungen und nicht am Konsens der Wissenschaft orientiert, löst das Problem nur psychisch. Viren und Physik lassen sich dadurch nicht beeindrucken. Da kommen auch schon deutliche Unterschiede ins Spiel: Die Corona-Krise entwickelt sich im Zeitraffer, die Klimakrise in Zeitlupe. Insofern bleibt diese Verleugnung und Verharmlosung lange unwidersprochen, und Scheinlösungen fliegen lange nicht auf.

STANDARD: Wie kann das Problem greifbar gemacht werden?

Steurer: Ich sehe da speziell die Medien in der Verantwortung. Solange über Folgen der Klimakrise berichtet wird, ohne diese als solche zu benennen, werden wir das Problem nicht lösen, weil es zu wenig präsent ist. Zudem könnten natürlich auch Regierungen mehr auf das Problem aufmerksam machen, aber Fridays for Future hat gezeigt: Viele Politiker reagieren beim Klimaschutz eher.

Steurer meint, dass Fridays for Future wieder stark zurückkommen wird, nachdem Corona die Bewegung in den Hintergrund gerückt hat.
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STANDARD: Die Maßnahmen müssen letztlich aber von der Politik gesetzt werden.

Steurer: Ja, aber wirksame Maßnahmen sind nur möglich, wenn sie von einer Mehrheit getragen werden, und für diese braucht es ein Problembewusstsein, das auch von medialer Berichterstattung abhängt. 2019 ist diese Dynamik in Gang gekommen. Zuvor war eher das Gegenteil der Fall. Da wollte eine Mehrheit zwar Klimaschutz, aber möglichst so, dass er nicht bemerkt wird und ja nichts kostet. Die Schadenskosten werden dabei natürlich ausgeblendet. Das Ergebnis war: Bis 2019 wurde besonders in Österreich Scheinklimapolitik betrieben.

STANDARD:Können Sie Beispiele für diese Scheinpolitik nennen?

Steurer: Die Klimaziele für 2012 hat Österreich nur durch den Kauf von Emissionszertifikaten erfüllt. Diese bringen zwar der Atmosphäre nicht das, was auf dem Papier steht, aber die Ziele wurden erfüllt. Kleine Ökologisierungen bei Steuern und Abgaben haben kaum Lenkungswirkung, aber man kann sie als Klimapolitik verkaufen. Der EU-Emissionshandel hat bislang kaum Emissionen reduziert, aber man konnte stets darauf hinweisen, dass die Industrie ihren Beitrag leistet. Aktuell wird quer durch Europa neue Gas-Infrastruktur gebaut. Aber: Auch Gas ist ein fossiler Brennstoff und somit Teil des Problems.

STANDARD: Was wäre der richtige Weg?

Steurer: Die erneuerbare Stromerzeugung in Kombination mit Stromspeichern massiv auszubauen und dann alle Lebensbereiche zu elektrifizieren, besonders Mobilität. Zwischenlösungen wie Gas hätten vor zehn bis 20 Jahren noch funktioniert. Jetzt ist es dafür zu spät, denn um eine Klimakatastrophe noch zu verhindern, müssen Emissionen ab sofort pro Jahr um sechs bis acht Prozent sinken. Jedes Jahr Verzögerung bedeutet, dass Emissionen in Zukunft noch stärker sinken müssten.

STANDARD: Die Regierung hat versprochen, beim Klima eine EU-weite Vorreiterrolle einzunehmen. Passiert das?

Steurer: Es ist noch zu früh, um das zu beurteilen. Eine Nagelprobe ist das EU-Ziel für 2030. Die ÖVP hat im EU-Parlament gegen minus 60 Prozent gestimmt, die Grünen – wenig überraschend – dafür. Eine Vorreiterrolle stelle ich mir so vor, dass sich beide Koalitionspartner für das von der Wissenschaft empfohlene 60-Prozent-Ziel einsetzen.

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Kanzler Sebastian Kurz hat am Freitag für das 55-Nettoziel auf EU-Ebene gestimmt.
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STANDARD: Wie lautet Ihr Fazit der türkis-grünen Klimapolitik nach knapp einem Jahr?

Steurer: Die Latte lag historisch tief, insofern konnte es nur besser werden. Das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz ist zweifellos ein historischer Meilenstein, aber: Andere große Entscheidungen sind noch ausständig, zum Beispiel der angekündigte Preis auf CO2. Wenn das ein symbolischer Preis von 35 Euro je Tonne wird – das sind acht Cent pro Liter Sprit –, passen einmal mehr Ziel und Umsetzung nicht zusammen. Klimaneutralität bis 2040 geht nur mit einem Preis, der Verhalten in Richtung Klimaschutz lenkt.

STANDARD: Wie hoch müsste der sein?

Steurer: Laut dem deutschen Umweltbundesamt verursacht eine Tonne CO2 Schäden in der Höhe von etwa 180 Euro. Anfangen sollten wir mindestens mit 100 Euro je Tonne oder 25 Cent pro Liter Sprit. Darunter ist die Lenkungswirkung zu gering, und niemand wird Gewohnheiten infrage stellen. Aber: Die Einnahmen sollten nicht das Budget erhöhen, sondern als Pro-Kopf-Prämie zurückfließen. Die untere Hälfte aller Haushaltseinkommen würde so mit einem Plus aussteigen. Klar kommuniziert, sollte das die Akzeptanz einer ansonsten unpopulären Maßnahme fördern, ohne geht es nicht.

STANDARD: Wieso braucht die Ausarbeitung des CO2-Preises Ihrer Meinung nach so lange?

Steurer: Das war wohl Verhandlungsgeschick der ÖVP. Sie hat das für sie unangenehme Thema erfolgreich vertagt. Es gibt viele politische, aber keinen fachlichen Grund, es nicht schneller zu machen. Leider verlieren wir dadurch wieder wertvolle Jahre, und das Zeitfenster, deutlich unter zwei Grad Celsius Erwärmung zu bleiben, schließt sich immer mehr.

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Wenn wir so weitermachen, gehen wir Richtung drei Grad, sagt Steurer.
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STANDARD: Die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels halten Sie also nicht mehr für realisierbar?

Steurer: Wir stehen bereits bei 1,2 Grad. Wenn wir die CO2-Konzentration in der Atmosphäre stabil halten könnten, würde das durch Verzögerungseffekte auf 1,7 Grad Erwärmung hinauslaufen. Dieses Szenario würde erfordern, dass Emissionen schlagartig um 80 Prozent oder mehr fallen müssten.

STANDARD: Was ist realistisch?

Steurer: Unter zwei Grad bis Ende des Jahrhunderts zu bleiben wäre extrem wichtig – und noch möglich, aber nicht mehr lange. Wir entscheiden das in den nächsten Jahren. Jedes Jahr ohne deutliche Fortschritte macht das Erreichen des Ziels unmöglicher. Wenn wir so weitermachen, gehen wir Richtung drei Grad.

STANDARD: Was würde eine Erwärmung von drei Grad Celsius bedeuten?

Steurer: Eine Klimakatastrophe, die immenses Leid und horrende Kosten mit sich bringen würde. Würden die Leute mehr darüber wissen, würden viele alles dafür tun, um das ihren Kindern und Enkeln zu ersparen. Weil sich die Klimakrise jedoch in Zeitlupe entwickelt, kann man die Augen davor verschließen – noch. (Nora Laufer, 12.12.2020)