Eine Demonstration vor dem Verfassungsgerichtshof im September für die Legalisierung von Sterbehilfe.

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Wien – Der Verfassungsgerichtshof hat die Strafbarkeit von Beihilfe zum Suizid aufgehoben und damit eine schwerwiegende Entscheidung getroffen. Der Straftatbestand der "Hilfeleistung zum Selbstmord" verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung. Es sei verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, befand der VfGH. Tötung auf Verlangen bleibt dagegen weiterhin strafbar. Die Tür zur Sterbehilfe ist damit nun auch in Österreich einen Spalt offen.

Nicht nur in Österreich führt die Legalisierung der Sterbehilfe zu hitzigen Debatten. Bereits in der kommenden Woche will das spanische Parlament das Strafgesetz ändern, in dem das Herbeiführen des Todes oder die Mitwirkung daran bisher unter Strafe steht. Damit würde Spanien nach den Niederlanden, Belgien und Luxemburg zum vierten Land in Europa werden, das aktive Sterbehilfe straffrei macht.

In welchem Ausmaß Beihilfe zum Suizid in Österreich künftig erlaubt sein wird, ist noch offen. Der Gesetzgeber ist nun gefordert, entsprechende Regelungen und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch zu schaffen. Dafür hat die Politik ein Jahr Zeit, denn die Aufhebung der Beihilfe zum Suizid tritt mit 1. Jänner 2022 in Kraft. Die Reaktionen fielen, wie zu erwarten, gemischt aus.

Es sei verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, befand der VfGH.
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Schweigsame Regierungsspitze

Schweigsam zeigte sich die Regierungsspitze am Freitag bezüglich der Entscheidung. In der Pressekonferenz über die feiertäglichen Corona-Regelungen darauf angesprochen, verwiesen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) auf Stellungnahmen von Parteikolleginnen.

Jetzt müsse man "prüfen, welche gesetzlichen Schutzmaßnahmen notwendig sind", hat beispielsweise ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler erklärt. Sie zeigte sich überrascht, dass der VfGH von seiner eigenen Rechtsprechung abgewichen sei – und betonte: "Das Leben ist das höchste Gut und genießt aus gutem Grund verfassungsrechtlich höchsten Schutz. Wir werden auch weiterhin dafür sorgen, dass niemand den Wert seines Lebens infrage stellen muss."

Ablehnend reagierte ÖVP-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler bezüglich der VfGH-Entscheidung.
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Auch Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer reagierte sehr zurückhaltend. "Die Folgen der Entscheidung des VfGH zum Thema Beihilfe zum Suizid bedürfen einer umfassenden Prüfung. Im Wissen darum, dass das Thema Sterbehilfe gerade auch angesichts Österreichs Geschichte besonders sensibel ist, braucht es aus grüner Sicht eine breite Einbindung von Expertinnen und Experten und der Zivilgesellschaft."

Opposition ist aufgeschlossen

SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim sprach sich für eine offene und breite Diskussion über zentrale Fragen am Ende des Lebens aus: "Es müssen Themen weit über das Strafrecht hinaus diskutiert werden, weil das Strafrecht an sich kein geeignetes Instrument ist, um ein Sterben in Würde herbeizuführen."

Erfreut reagierte NEOS-Gesundheitssprecher Gerald Loacker: "Diese Entscheidung ist für viele todkranke Menschen in Österreich eine lange ersehnte Nachricht. Sie gibt ihnen die Aussicht auf ein selbstbestimmtes Lebensende, auf ein Sterben in Würde." NEOS sei klar gegen aktive Sterbehilfe, "aber wir waren immer dafür, die Mitwirkung an der Selbsttötung von unheilbar kranken Patienten unter bestimmten Umständen zu erlauben".

Ärzte und Kirche bedauern Entscheidung

Bei der Ärztekammer stößt der Schritt auf Ablehnung. "Diese Entscheidung ist bedauerlich", befand Thomas Szekeres, der Präsident der Österreichischen Ärztekammer. Denn es drohe die Gefahr, "dass ältere und kranke Menschen vermehrt unter Druck geraten, ihre Daseinsberechtigung und ihren Lebenswillen zu rechtfertigen". "Kategorisch abzulehnen" sei "geschäftsorientierte Sterbehilfe", also wie in Deutschland oder der Schweiz Sterbehilfe durch private Unternehmen. "Große Sorge und Betroffenheit" äußerte auch das Salzburger Ärzteforum in einer Aussendung.

"Bestürzt" zeigte sich die katholische Kirche. Das Urteil sei ein Kulturbruch und gefährde die Solidarität, kritisierte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Salzburger Erzbischof Franz Lackner. "Jeder Mensch in Österreich konnte bislang davon ausgehen, dass sein Leben als bedingungslos wertvoll erachtet wird – bis zu seinem natürlichen Tod. Diesem Konsens hat das Höchstgericht mit seiner Entscheidung eine wesentliche Grundlage entzogen", sagte Lackner. Er sprach von einem "Dammbruch". Kärntens Bischof Josef Marketz forderte die Politik auf, unmissverständlich den Missbrauch des nötigen neuen Gesetzes – für das der VfGH bis Ende 2021 Zeit gelassen hat – zu verhindern. Heftige Kritik am VfGH-Entscheid übte der steirische Bischof Wilhelm Krautwaschl: "Das menschliche Leben ist schützenswert – von Anfang bis zum Ende."

Die evangelische Kirche pochte auf Maßnahmen gegen Missbrauch und ein Verbot kommerzieller Sterbehilfe.

Der Salzburger Erzbischof Franz Lackner spricht von einem Dammbruch.
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Seniorenbund-Präsidentin Ingrid Korosec forderte, dass jede Form von Missbrauch "konsequent unterbunden werden muss". Sie erinnert daran, dass auch das deutsche Bundesverfassungsgericht ausdrücklich vor Missbrauch und Fehlentwicklungen bei der erweiterten Sterbehilfe gewarnt hatte.

Initiierender Verein zufrieden

Zufrieden war der Schweizer Verein Dignitas, der die Verfassungsklage initiiert hat. Die Freiheit, über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes selbst zu bestimmen, sei ein vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2011 bestätigtes Grundrecht. Bisher sei es in Österreich ignoriert worden, heißt es in einer Aussendung. Der Sterbehilfe-Verein hatte die von Anwalt Wolfram Proksch namens vierer Antragsteller – drei Betroffene und Arzt – eingebrachte Verfassungsklage initiiert. (APA, red, 12.12.2020)