Das Recht auf selbst bestimmtes setzt sich weltweit immer weiter durch.

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Das Verbot, Menschen zu töten, ist eines der Grundfeste unserer Zivilisation. Die Ächtung des Suizids ist eine weniger klare gesellschaftliche Norm. Zwar gilt er heute für die meisten nicht mehr wie früher als Sünde, sehr wohl aber als tragisches Unglück, den die Gesellschaft mit allen Mitteln verhindern soll.

Die Fortschritte der modernen Medizin, die es ermöglichen, dass Menschen auch mit unheilbaren Leiden und unerträglichen Einschränkungen weiterleben können, haben jedoch neue ethische Fragen aufgeworfen. Immer mehr demokratische Staaten mit hohen moralischen Standards sind in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, Menschen in einer solchen Notlage den selbst bestimmten Tod zu ermöglichen.

Aktive Höchstrichter

Das hat am Freitag auch der Verfassungsgerichtshof getan. Er hat sich damit mutig in einer der schwierigsten ethischen Debatten klar auf eine Seite gestellt. Das mag man, wie es die Kirche und die Ärztekammer tut, bedauern. Aber es entspricht nicht nur den weltweiten Tendenzen der vergangenen Jahre, sondern auch der jüngeren Praxis der Verfassungsrichter.

Wie schon bei der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Anerkennung eines dritten Geschlechts hat der VfGH nicht darauf gewartet, dass der Gesetzgeber die Normen der Gesellschaft anpasst, sondern hat im Namen der Verfassung selbst gehandelt. Das liegt wohl auch daran, dass mit der ÖVP seit Jahren eine Partei die Politik dominiert, die der Kirche ein Einspruchsrecht bei allen ethischen Fragen zugesteht.

Der Wunsch nach Selbstbestimmung

Die Entscheidung der Verfassungsrichter ist wohl ein juristischer Aktivismus, der allerdings den heute in der Gesellschaft vorherrschenden Werten entspricht. Das Recht auf selbst bestimmtes Sterben ist ein Wert, der vor allem für alte Menschen immer wichtiger wird. Sie fürchten sich zurecht davor, zum Weiterleben verurteilt zu werden, weil niemand ihnen beim Sterben helfen darf. Die Angebote der Palliativmedizin bieten hier keinen Ersatz. Wer dies zur einzigen ethischen Option erklärt, stellt religiöse Normen über die der modernen Aufklärung.

Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes ist ein Wendepunkt, allerdings mit Einschränkungen. Die Tötung auf Verlangen, wie sie in Belgien, den Niederlanden und bald auch in Spanien praktiziert wird, bleibt verboten. Das mag zwar übertrieben vorsichtig und inkonsequent sein, aber realpolitisch klug. Auch Höchstrichter müssen die massiven Bedenken einer Minderheit mitberücksichtigen. Wenn Österreich eine Gesetzgebung wie in der Schweiz erhält, dann ist bereits ein großer Schritt getan.

Eine Dignitas in Österreich?

Dies ist allerdings keineswegs sicher. Indem der VfGH den Gesetzgeber aufruft, Regelungen zur Verhinderung von Missbrauch zu erlassen, gibt er ihm die Chance, das Urteil in der Praxis deutlich einzuschränken. Ein Zugticket nach Zürich zur Sterbehilfeorganisation Dignitas wird wohl möglich sein, aber ob eine Dignitas in Österreich den zukünftigen Gesetzen entsprechen wird, ist unsicher. Die Grenzen zwischen Mitwirkung beim Suizid und Tötung auf Verlangen können leicht verschwimmen.

Eine allzu restriktive Umsetzung des Urteils müsste erst wieder vor dem VfGH angefochten werden. Das kann Jahre dauern. Hier sind die Grünen gefordert, dem massiven Lobbying der Kirche entgegenzutreten und für ein liberales Sterberechtregime, wie es die meisten ihrer Wählerinnen und Wähler wünschen, zu kämpfen.

Schwierige Übergangszeit

Unklar ist auch, was bis 2022 geschieht, wenn das Erkenntnis in Kraft tritt. Es wäre tragisch, wenn ein Ehepartner eines Todkranken im nächsten Jahr noch wegen Beihilfe zum Suizid verurteilt wird. Da sind die Gerichte gefragt, Milde walten zu lassen, wie sie es auch in Einzelfällen schon getan haben.

Dass es verboten bleibt, jemanden zur Selbsttötung zu verieiten, ist selbstverständlich. Das haben die Richter ganz richtig entschieden. Abe die Erfahrungen anderer Staaten haben gezeigt, dass dies ohnehin sehr selten geschieht. Man kann davon ausgehen, dass dies nicht das letzte Erkenntnis des Höchstgerichts zur Sterbehilfe gewesen ist. (Eric Frey, 12.12.2020)