Foto: Amrun

Ninive warf einen fragenden Blick zu Cutter, dann zog sie die Gardinen beiseite und sah nach draußen. Vor dem Haus weidete eine Herde Rothenkel-Kaffeemaschinen. Thermoskannen und Eintagsautomaten hatten sich unter sie gemischt und stellten den paarungsreifen Weibchen nach. Ninive konnte beim besten Willen nichts Besonderes entdecken.

Zwei Glückwünsche vorab: Zunächst an Michael Marrak, der mit diesem Buch vor zwei Wochen den Kurd Laßwitz Preis 2018 für den besten deutschsprachigen SF-Roman gewonnen hat. Und an "Bambi Love VI, die Jungfrau", der/die das schon Anfang des Jahres in einem Posting korrekt prophezeit hat (mein persönlicher Tipp, Matthias Odens "Junktown", landete ja eher unter ferner liefen). Beim Erscheinen im Spätherbst hatte ich noch aus einem ebenso banalen wie typischen Grund einen Bogen um das Buch gemacht: Die Schwarten türmten sich damals bei mir daheim, und noch ein Über-700-Seiten-Ding hätte ich einfach nicht verkraftet. Jetzt hatte ich ein bisschen mehr Luft – ein Glück, denn so viel Spaß mit einem Roman, wie mir "Der Kanon mechanischer Seelen" bereitet hat, hab ich nicht alle Tage.

Ninive im Wunderland

Hauptfigur Ninive lebt auf der Erde einer fernen Zukunft, in der Technologie und Magie respektive Science Fiction und Fantasy de facto nicht mehr unterscheidbar sind. Unwillkürlich denkt man dabei an Klassiker wie Michael Moorcocks Zyklus "Am Ende der Zeit" oder Jack Vances "Dying Earth" zurück. Doch obwohl die Erde auch bei Marrak zu sterben droht, kann hier von Niedergangsstimmung keine Rede sein. Stattdessen prägt Humor den Ton, dafür sorgt schon die recht ungewöhnliche Bevölkerung der Zukunftserde. Menschen und Tiere gibt es kaum noch, dafür ein neues Ökosystem aus Maschinen und anderen Dingen, die "beseelt" wurden: von sprechenden Haushaltsgeräten über einen Fluss mit großem Ego bis hin zu dressierten Wolken.

Wandler wie Ninive waren es, die einst die neue Mecha-Fauna geschaffen haben und weiterhin nach eigenem Ermessen Dinge be- und entseelen. Ninive gefällt sich als Dirigentin eines Haushalts voller denkender Geräte und hat nicht viel mehr zu tun, als mit mütterlicher Strenge durchzugreifen, wenn Ofen, Stehlampe & Co bei ihrem ständigen Gezänk mal gar zu sehr über die Stränge schlagen. Aus dieser Selbstzufriedenheit wird Ninive allerdings gerissen, als eine Reihe von Besuchern in ihrer abgelegenen Wohnstätte eintrudelt.

Der zündende Funke

Zu Ninives Gästen zählt auch der Wandler Aris. Der wurde im Auftrag des Dynamo-Rats – der Maschinen, die die letzte Stadt auf Erden verwalten – auf die Spur eines ärgerlicherweise bis dato ungelösten Rätsels gesetzt. Vor 1.000 Jahren soll nämlich ein Besucher von jenseits der vier Kilometer hohen Mauer gekommen sein, die die bekannte (Mini-)Zivilisation vom Rest der Welt trennt. Dahinter liegt vielleicht das gelobte Land, wo Öl und Äther fließe und Metall nie roste, doch nichts Genaues weiß man nicht. Im Grunde gegen ihren Willen wird Ninive in diese Mission mit hineingezogen, und andere werden ihr folgen.

Nach und nach findet sich so die wohl ungewöhnlichste Fellowship der vergangenen Jahrzehnte zusammen. Ihr gehören an: zwei Menschen, ein künstlicher Zyklop und Zeit-Experte, ein uraltes Unterwasserfahrzeug nebst beseeltem Taucheranzug, zwei ineinander verliebte Avatare von Büchern(!) und nicht zuletzt Cutter, also Gevatter Tod höchstselbst. Der ist in einer Welt, in der es kaum noch Tiere gibt und die letzten Menschen Unsterblichkeit erlangt haben, mehr oder weniger arbeitslos geworden. Er weiß aber auch, dass bei der Expedition mehr auf dem Spiel steht, als die anderen zunächst noch ahnen: nämlich der Fortbestand der ganzen Welt.

Auf wenigen Kilometern über Raum und Zeit hinaus

Wegen diverser Turbulenzen verstreicht die Hälfte des beträchtlichen Romanumfangs, bis sich die Queste überhaupt erst in Gang setzt. Und ironischerweise wird sie letztlich, rein an Kilometern gemessen, auch nicht allzu weit kommen. Aber was bedeutet schon simple Geographie? Dafür werden zwischendurch Ausflüge in Mikro- und Makrokosmos eingestreut, etwa ein Treffen im Inneren eines Helium-Atoms oder ein Abstecher zu den letzten Momenten des Universums.

Hier ist eindeutig der Weg das Ziel, und zu sehen gibt's ja auch jede Menge. Staunend über Marraks Erfindungsreichtum, stolpern wir von einer grotesken Situationskomik zur nächsten. Ob nun der Tod sein eigenes Spiegelbild im Schach schlägt oder eine fleischfressende Pflanze vorschnell zuschnappt und anschließend zerknirscht ihr Opfer herumschleudert wie Salat, damit das Verdauungssekret von ihm abtropfen kann: Hier ist so ungefähr alles möglich.

Sprachliches Erlebnis

Der Plot von "Der Kanon mechanischer Seelen" ist letztlich ganz konventionell, das Worldbuilding hingegen keineswegs und die Sprache erst recht nicht. Einen milden Schock werden Leser gleich zu Beginn erleben, wenn sie einer Sitzung des Dynamo-Rats beiwohnen dürfen, wo man sich in den Wortgirlanden eines vollmundigen Techno-Barocks auszudrücken beliebt, als läse man den "Post-täglichen Mercurius". Aber keine Angst: Sowas hält (außer vielleicht Benjamin Rosenbaum) kein Autor auf voller Romanlänge durch. Abschnitte, in denen die menschlichen Protagonisten im Vordergrund stehen, werden deutlich straighter erzählt. Überkandidelt wird's nur dann, wenn die beseelten Dinge unter sich bleiben.

Mythologische Verweise und die Lust an der Lautmalerei geben dem Roman sein ganz eigenes Flair. Beim Rhythmus von Worten wie die schwebenden Gärten von Parabol musste ich unwillkürlich an H. C. Artmanns "1001 Nacht" denken. Und auch wenn das eher kein direkter Einfluss gewesen sein dürfte: Der Lyrik nahe Inspirationsquellen macht Marrak in den Einleitungen der Kapitel transparent, Goethe, Jean-Paul, vor allem aber Stanislaw Lem. Mitunter wird ja fast vergessen, dass der Großmeister der europäischen SF gerne auch mal seine Kreativität ins Absurde losgaloppieren ließ und eine sehr stark ausgeprägte humorvolle Seite hatte. Und just solche Werke (etwa die "Kyberiade") hat Michael Marrak aufgegriffen; bis hin zur Direktübernahme einiger von Lems Wortschöpfungen. So ungewöhnlich "Der Kanon mechanischer Seelen" inmitten der heutigen Science Fiction auch wirken mag – im Grunde steht Marrak damit, wie übrigens auch Uwe Post, in einer lange zurückreichenden Tradition.

Paradoxerweise kommen hier also beide Arten von Lesern auf ihre Kosten – diejenigen, die gerne mal abseits ausgetretener Pfade wandeln würden, wie auch diejenigen, die ihre SF-Sammlung lieber mit Werken einer altehrwürdigen Machart füllen. "Was also haben sie zu verlieren?" – "Die Welt", antwortete Cutter. "Nur die ganze verrückte Welt."