Neues Österreich vom 18. Dezember 1947

Es weihnachtet sehr 

Meine Freundin Evi hat schon den fünften Wunschzettel an das Christkind geschrieben. Die Erwachsenen kaufen bereits Marvel-Zigaretten auf die noch ausstehende Weihnachtsremuneration, und auf dem Schwarzenbergplatz standen gestern zwei Wachleute, die eine Sendung Tannenbäume bewachten, welche in der Nacht von ein paar ernsten Herren in Overalls dort abgeladen worden waren. Kein Zweifel kann bestehen: es weihnachtet sehr.

Die Stadt sieht aus, als habe sie sich eben die Schuhe geputzt. In den Geschäften tauchen wunderschöne Dinge auf. Viele Menschen stehen vor ihnen und zerbrechen sich den Kopf darüber, ob ein halbes Kilogramm schwarzes Schweinefleisch wohl wichtiger ist als eine Puderdose aus rotem Leder mit Reißverschluß, oder ob man dem Menschen, den man liebt, mit einer Nachahmung der Venus von Milo ebensoviel Freude bereiten wird wie mit einem bescheidenen Brillantring um 1800 Schilling. Die Venus von Milo ist viel schöner. Aber leider, denkt man, ist sie auch billiger. Leider? Ja, zum Teufel, schenken wir denn mit dem Herzen oder mit der Brieftasche? Es geht mich nichts an, doch ich würde die Venus von Milo riskieren.

Es gibt immer zwei Maßstäbe für ein Geschenk. Seinen realen Wert und seinen persönlichen. Der reale kann mir gestohlen werden, er ist ganz nebensächlich. Wenn es nach ihm ginge, könnte sich jeder Mensch selber beschenken. Und das wäre furchtbar langweilig. Den persönlichen Wert vermag man in Schillingen, auch in neuen, niemals auszudrücken. Er kann größer sein als tausend Elefanten und kostbarer als das Gold, der Weihrauch und die Myrrhe, welche drei Könige aus dem Morgenland vor langer Zeit einem Kinde brachten, das in einer Krippe lag.

"Man gibt den Menschen nichts, wenn man sich nicht selbst gibt", heißt das Motto eines berühmten Buches. Das ist es, sehen Sie, nur das allein:
Ich kenne einen Mann, dem ging es 1944 schlecht. Am Weihnachtsabend schrieb er seiner Frau, die er sehr liebte, einen Brief, in dem er ein wenig von dem vielen erwähnte, was er für sie empfand. Bei weitem nicht alles, nur einen kleinen Teil. Doch jedes Wort in seinem Brief war echt und machte seine Frau unendlich glücklich. Auf dem Tisch, um den sie saßen, brannte eine Kerze. Sie aßen ihre Lebkuchenzuteilung auf, tranken Tee und sahen sich in die Augen. Dann rauchte er eine Pfeife des Tabaks, den sie ihm schenkte, und sie lächelten und dachten darüber nach, wie froh sie waren, daß sie einander hatten. Das war das Weihnachtsfest meines Freundes Eberhard, der sich selbst verschenkte. Ich könnte mir vorstellen, daß auch ich sehr glücklich wäre, wenn mir jemand zum 24. Dezember nichts als einen Brief schenkte.

Denn Weihnachten ist traditionellerweise nicht das Fest der dicken Brieftaschen. Es ist das Fest der Liebe, wenn Sie gestatten, daß ich Sie daran erinnere: der eine Abend im Jahr, an dem wir uns freuen dürfen, ohne Angst haben zu müssen, daß es die Steuerbehörde merkt. Oder der Gasmann. Versuchen Sie es heuer, des Interesses halber, auf alle Fälle. Mit oder ohne Venus von Milo, mit oder ohne Rotfuchsmantel. Freuen Sie sich. Es handelt sich ja nur um ein paar Stunden. Den Kopf, an dem Ihr Herz so hängt, wird's schon nicht kosten.

Wenn ein Mensch imbedingt 1000 Schilling benötigt, um sich wohl zu fühlen, dann ist mit ihm irgend etwas nicht in Ordnung. Und wenn einer bei einem Buch gleich hinten nachsieht, ob der Preis noch drin steht, sollte man ihm auf die Finger klopfen.

Es gab Zeiten, da sah man verächtlich auf einen Kranz Knackwürste herab. Die Knackwurst war nicht gesellschaftsfähig, sozusagen. Heute würden Universitätsprofessoren und Damen der besten Kreise sich alle zehn Finger ablecken, wenn sie ein paar Kilogramm davon zum Geschenk erhielten. Mit allen anderen Dingen, die für Geld zu kaufen sind, verhält es sich ähnlich. Dabei will ich keinesfalls den Stab über die Knackwürste brechen. Sie sind nützlich. Sie sind angenehm. Auch ein Sportkabriolett und ein Fünfröhrenapparat sind nützlich. Aber wertvoll sind sie erst, wenn hinter ihnen ein Mensch steht und nicht bloß ein Titel, ein Herz und ein hinübergerettetes Sperrkonto.

Damit wären wir wieder zu dem Brief meines Freundes Eberhard gekommen. Denn auch in seinem Umschlag lag ein Herz, obwohl man es nicht sehen konnte. Das Allerwichtigste an der Liebe ist nicht das, was man tut, sondern das, was man unterläßt. Das Allerwichtigste an einem Geschenk ist das an ihm, was man nicht sieht.

Wenn man meine Freundin Evi fragt, was sie sich vom Christkind wünscht, wird sie ganz still und bohrt vor Verlegenheit nur deshalb nicht in der Nase, weil das streng verboten ist. Das kommt, weil sie so viele Wünsche hat. Es gibt aber auch Menschen, die werden überhaupt nicht fertig, wenn sie einmal damit begonnen haben, über all das zu sprechen, was sie sich ersehnen. Das sind jene, die eigentlich gar keine Wünsche haben. Es ist geraten, mit dem Glück ökonomisch zu
sein. Wer zu viel will, bekommt immer zu wenig. Wer wenig will, bekommt manchmal mehr, als er braucht.

Wenn Sie in diesen Tagen durch die Straßen der Stadt laufen und vor lauter Sorgen um das Fest, das vor der Tür steht, keine Zeit finden, sich darauf zu freuen, dann denken Sie an all das, was über diesem Satz steht. Vielleicht hilft es Ihnen weiter. Nur Gebrauchsartikel wurden rationiert. Gefühle sind noch immer markenfrei. Es kostet nichts, einen Menschen gern zu haben und es ihm zu sagen. Wenn Ihnen also das Geld ausgeht, ist das noch keine Tragödie. Wenn Sie aber niemanden zum Gernhaben besitzen, dann ist es höchste Zeit, sich nach ihm umzusehen. Und zwar noch vor Weihnachten. Es ist nicht schwer. Leuten zum Gernhaben begegnet man an jeder besseren Ecke, im ersten Bezirk wie im sechzehnten Hieb.

Ich glaube, daß ich schon heute meinen eigenen Wunschzettel zusammenstellen werde. Da wären zunächst ein Paar Hosenträger. Weil meine alten schon nicht mehr ganz salonfähig sind. Dann käme wohl eine Flasche Wein. Oder vielleicht zwei. Aber er soll nicht zu verwässert sein. Und schließlich, liebes Christkind, wenn’s recht ist, Frieden. Für alle Menschen, die guten Willens sind. J. M. Simmel

(Kurt Tutschek, 18.12.2020)

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