Schon 49.000 Menschen sind aus der äthiopischen Provinz Tigray in den Sudan geflohen, darunter auch dieses Mädchen.

Foto: AFP / Yasuyoshi Chiba

Am 14. Dezember wird das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR 70 Jahre alt. Für eine Organisation, die nur drei Jahre hätte bestehen sollen, ist das ein unangenehmer Geburtstag. Wir sind nicht in Feierstimmung.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Wiederaufbau einer zerstörten Welt begann, hatte das UNHCR die Aufgabe, Unterkünfte für Europas Flüchtlinge zu finden. Sein Mandat war zeitlich und geografisch begrenzt und ausdrücklich unpolitisch, als ob seine Existenz eine Erinnerung an das Elend wäre, das am besten mit dem Schutt weggekehrt werden sollte.

Doch die internationale Ordnung veränderte sich, brachte neue Konflikte und damit mehr Flüchtlinge: 200.000 Ungarinnen und Ungarn flohen nach Österreich, nachdem der ungarische Volksaufstand 1956 von den sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden war. Im folgenden Jahr bat Tunesien das UNHCR um Hilfe, da vor dem Unabhängigkeitskrieg im benachbarten Algerien zehntausende Menschen auf der Suche nach Sicherheit über die Grenze flohen.

Und die humanitären Einsätze wurden immer mehr. Die postkoloniale Zeit war von Befreiungs- und dann von Machtkämpfen begleitet, Millionen Zivilistinnen und Zivilisten waren die Leidtragenden der Konflikte. Jahr für Jahr und Kontinent für Kontinent wurde das UNHCR aufgefordert, der wachsenden Zahl von Menschen auf der Flucht zu helfen, von Mittelamerika über Subsahara-Afrika bis nach Vietnam und Kambodscha.

Seit mehr als vier Jahrzehnten müssen Menschen aus Afghanistan fliehen. Der Syrien-Konflikt dauert bald zehn Jahre an. Diese Liste ließe sich fortsetzen: Neue Konflikte entstehen oder flammen wieder auf, und die negativen Folgen vergangener Konflikte wirken nach. In den letzten sieben Jahrzehnten hat sich eine Welt, die sich auf eine friedliche Ära eingeschworen hat, als sehr gut darin erwiesen, Konflikte zu entfachen – aber weit weniger Geschick gezeigt, diese auch wieder zu beenden.

Mehr Flüchtlinge

Das UNHCR unternimmt seit Jahren alles Menschenmögliche, um Menschen auf der Flucht Schutz zu bieten. Dies ist häufig mit Kompromissen verbunden. Wir sind normalerweise nicht "im Raum", wenn über das Schicksal von Nationen und Völkern entschieden wird. Aber wir sind immer vor Ort und an der Seite jener Menschen, die zur Flucht gezwungen sind. Unsere unpolitische Natur ist in unserem Statut festgeschrieben. Doch inmitten von Krisen und Notfällen ist unsere Arbeit oft mit komplexer Diplomatie, schwierigen Entschlüssen und auch unmöglichen Entscheidungen verbunden. Denn wir müssen versuchen, eine immer größere Anzahl gefährdeter Menschen mit Mitteln zu erreichen, die einfach nicht mit den Bedürfnissen Schritt halten.

UNHCR-Kolleginnen und -Kollegen damals und heute sind sehr stolz darauf, dass sie mit ihrer Arbeit einen Unterschied in den Leben jener Menschen machen, die sie retten, schützen und unterstützen. Sie sind stolz darauf, sich neuen Herausforderungen zu stellen, wie den Auswirkungen des Klimawandels oder in jüngster Zeit der Corona virus-Pandemie, die die schwierige Situation von Menschen auf der Flucht nochmals verschärfen.

Gleichzeitig wünschen sie sich, dass es ihre Arbeit nicht gäbe. Wenn die Kriegsparteien einen Waffenstillstand vereinbaren würden, wenn die Vertriebenen sicher nach Hause zurückkehren könnten, wenn die Regierungen die Verantwortung für Resettlement mittragen würden, wenn die Staaten ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf Asyl und den Grundsatz des Non-Refoulement einhalten würden – also Menschen, die vor Lebensgefahr fliehen, nicht wieder zurückzuschicken –, dann müssten wir uns als UNHCR viel weniger Sorgen machen. Und ja, wir haben das alles schon oft gefordert.

Kaum Lösungen

1994 gehörte ich dem UNHCR-Notfallteam im damaligen Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, an. Innerhalb von vier Tagen überquerten eine Million Menschen die Grenze von Ruanda, um den Massakern zu entkommen – nur um in einen Cholera-Ausbruch zu geraten, der Zehntausende von Menschen tötete. Kolleginnen und Kollegen von mir, die versprochen hatten, die Menschen zu schützen, haben stattdessen Gräber ausgehoben. Man kann an die Leben denken, die man gerettet hat. An den Moment, als man die Verzweiflung eines Flüchtlings in Hoffnung verwandeln konnte. Aber man kann nie aufhören, an jene zu denken, die man nicht retten konnte.

Vor fast einem Jahr erreichte die Gesamtzahl der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen, Asylsuchenden und Staatenlosen ein Prozent der Weltbevölkerung. Ich frage mich, welchen Prozentsatz wir als inakzeptabel betrachten werden – zwei Prozent, fünf Prozent oder mehr? Wie viele Menschen müssen noch die Würdelosigkeit und die Verluste von Vertreibung erleiden, bevor die politisch Verantwortlichen an der Lösung der Fluchtursachen arbeiten?

Zum 70. Jahrestag des UNHCR lautet meine Aufgabe an die internationale Gemeinschaft also: Machen Sie mich arbeitslos. Machen Sie es sich zum Ziel, eine Welt aufzubauen, in der es wirklich keinen Bedarf für ein UN-Flüchtlingshilfswerk gibt, weil niemand gezwungen ist zu fliehen. Verstehen Sie mich nicht falsch: In der aktuellen Situation ist unsere Arbeit lebensnotwendig – doch das Paradoxe ist, dass wir nicht existieren sollten. Wenn wir noch viele weitere Jahrestage begehen müssen, wird die Schlussfolgerung wohl sein, dass die internationale Gemeinschaft versagt hat.

Aber selbst wenn die Ursachen für Massenflucht und Vertreibung in nur einem halben Dutzend Ländern beseitigt würden, könnten Millionen Flüchtlinge nach Hause zurückkehren, ebenso wie viele Millionen Binnenvertriebene.

Das wäre ein sehr guter Anfang – und etwas, das wir alle wirklich feiern könnten. (Filippo Grandi, 13.12.2020)