Vergessen Sie den Begriff "Social Distancing": Echte Rührung funktioniert auch ohne Berührung.

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Es ist wohl eine der am längsten laufenden wissenschaftlichen Untersuchungen und eine der außergewöhnlichsten. Seit mehr als 80 Jahren folgt die Grant Study der Universität Harvard einer US-amerikanischen Alterskohorte, um die signifikanteste Variable für ein gesundes und langes Leben herauszufinden. Braucht es gute Gene, Reichtum, überdurchschnittliche Intelligenz, sozialen Status? – Nicht wirklich. Das sind keine tragfähigen Indikatoren. Die Antwort ist einfach und klar: Entscheidend ist die Qualität unserer Beziehungen.

Nur wenige Teilnehmer der ersten Kohorte von 268 Männern sind noch am Leben und inzwischen um die hundert Jahre alt; die Studie wurde in den letzten Jahrzehnten sozial diversifiziert und auch auf Frauen ausgeweitet. Die zentrale wissenschaftliche Erkenntnis wurde durch jüngste Analysen weiter bestätigt: Gute Beziehungen schützen unsere Gesundheit und unser Leben. Einsamkeit dagegen macht krank.

Warum ich jetzt darüber schreibe? In einer Pandemie physisch Abstand zu halten und Masken zu tragen ist kein Grund, sozial auf Distanz zu gehen. Zusammentreffen einzuschränken heißt nicht, auf menschlichen Austausch und soziales Miteinander zu verzichten.

Rührung ohne Berührung

Belügen wir uns nicht selbst: Nicht die Reichweite und die Quantität unserer Interaktionen zählen für ein gutes Leben, sondern die Achtsamkeit, mit der wir mit anderen in Austausch gehen. Vergessen Sie den Begriff "Social Distancing"! Auch wenn wir uns für unser Wohl noch eine Zeitlang buchstäblich aus dem Weg gehen müssen, können wir uns menschlich nah sein; vielleicht sogar näher. Echte Rührung braucht nicht unbedingt Berührung.

Eine Pandemie ist keine Aus rede dafür, einmal zum Telefon zu greifen und sich Zeit für ein Gespräch zu nehmen. Im Gegenteil, die Corona-Krise liefert einen Anlass, mit verlorengeglaubten Freunden und entfernten Verwandten Kontakt aufzunehmen, ohne damit für Verwunderung zu sorgen.

Pflegen wir die Kunst guter Unterhaltung, oberflächlichen Small Talk bekommen wir nach der Corona-Krise wieder zur Genüge. Was es für echten Dialog braucht, ist eine Absichtslosigkeit; das Aufgeben von Erwartungshaltungen, die sonst unsere Alltagskommunikation prägen.

Ich mache mir Spaziergänge aus, wo vor ein paar Monaten noch ein Treffen im Kaffeehaus geplant gewesen wäre. Telefontermine oder Videocalls am Abend, mit einem Glas Wein, hatten wir früher mit jenen in der Ferne, heute sitzt das Gegenüber womöglich nur ein paar Straßen weiter. Es ist nicht das Gleiche, aber was zählt, ist sich aufeinander einzulassen. Wie oft saßen wir vor Corona schon bei einem Abendessen und hatten uns nichts zu sagen?

Aufrichtige Gespräche

Wie viele unserer Beziehungen sind tragfähig, beruhen auf Vertrauen und Offenheit? Seien wir ehrlich: War vor der Pandemie alles besser? Wie viel Zeit für ein aufrichtiges Gespräch mit der Oma, die wir zu Weihnachten nicht besuchen können, hatten wir denn in unserem beschäftigten Leben davor? Oder mit den Enkeln?

Die Realität ist immer dort, wo unsere Aufmerksamkeit ist. Lenken wir sie doch auf unsere Beziehungen. Die Außenwelt wird uns früh genug wieder in ihren Bann ziehen. (Philippe Narval, 14.12.2020)