Vorige Woche war der britische Premier Boris Johnson im Vorfeld des EU-Gipfels bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel zu Gast – freilich nur noch als Regierungschef eines Drittstaats.

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Wenn in Europa ganz besonders heikle Entscheidungen anstehen, noch dazu solche von historischer Tragweite für einen Teil der EU-Mitgliedsstaaten, geben die Beteiligten nicht so schnell auf. Dann werden Fristen und Ultimaten allen Schwüren und früheren Erklärungen zum Trotz gerne verlängert. So war das auch am Sonntag bei den Verhandlungen über ein geplantes EU-Freihandelsabkommen mit Großbritannien zum Brexit.

Dieses soll die in einer Übergangsfrist bis Jahresende weiter geltenden EU-Regelungen nach dem formellen Austritt des Landes am 1. Februar 2020 ablösen und geordnete Handels- und Verkehrsbeziehungen sichern. "Die Verhandlungen sind am Laufen. Wir werden am Sonntag entscheiden", hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag nach dem Ende des EU-Gipfels in Brüssel erklärt.

Rund 48 Stunden später trat sie am Sonntagmittag in Brüssel vor die Kameras und gab ein kurzes Statement ab: Sie habe mit dem britischen Premier Boris Johnson gerade "ein konstruktives und nützliches Telefonat geführt". Die Teams hätten Tag und Nacht verhandelt. Und obwohl nun schon seit einem Jahr immer wieder Fristen versäumt wurden, "denken wir beide, dass es verantwortungsvoll ist, wenn wir jetzt noch eine Extrameile gehen".

Johnson betont No-Deal

Die Gespräche in der Nachspielzeit würden in Brüssel weitergeführt, so von der Leyen, die Frist werde verlängert. Für wie lange, erklärte sie allerdings nicht. In London bestätigte das zeitgleich auch Johnson. Er fügte aber hinzu, dass ein Scheitern, ein No-Deal-Szenario, für den 1. Jänner 2021 nach wie vor die wahrscheinlichere Variante sei.

Genau das hatte sich beim EU-Gipfel auch im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs als Einschätzung verfestigt. "Man hat nicht einmal zehn Minuten über den Brexit geredet", hieß es aus Ratskreisen. Von der Leyen erstattete ihren Kollegen Bericht über den Stand der Gespräche mit den Briten. Sie betonte dabei bereits, dass die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal höher sei als die eines positiven Abschlusses.

Der Europäische Rat gab ihr den Auftrag, die Sache bis Sonntag abzuwickeln. Ob man damit auch wirklich einen raschen Abbruch der Brexit-Verhandlungen noch vor Weihnachten in Kauf nehmen wollte, blieb aber offen. In der Geschichte der EU war es oft so, dass wichtige Entscheidungen erst mit großer Verspätung, "angehaltener Uhr" oder nach zähen Kompromissen fünf nach statt fünf vor zwölf getroffen wurden (siehe Bericht unten).

Einen Hinweis auf eine solche Extrarunde nach der regulären Spielzeit lieferte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Man müsse "alles tun", um zu einem Ergebnis zu kommen. "Jede Möglichkeit dazu ist hoch willkommen", sagte sie Sonntagmittag in Berlin, während von der Leyen noch mit Johnson telefonierte. Entscheidend sei die Frage "fairer Handelsbedingungen".

Der STANDARD erfuhr aus Ratskreisen, dass dieser Punkt, mehr noch als die umstrittenen Regelungen der Fangquoten für die Fischerei, zum eigentlichen Knackpunkt der Verhandlungen werden würden. Die EU besteht darauf, dass es einen britischen Zugang zum Binnenmarkt prinzipiell nur dann geben könne, wenn London akzeptiere, dass die gehandelten Produkte nur dann ohne Zölle und Mengenbeschränkungen zirkulieren können, sofern sie unter vergleichbaren Standards hergestellt werden. Das heißt: Die Kosten für Umweltauflagen, soziale Kosten, aber auch Staatsbeihilfen müssen eingerechnet werden. Das wiederum hat Johnson bisher vehement abgelehnt.

Sollte man dabei eine Kompromissformel finden, stellt sich die Frage, mit welchen Sanktionen Verstöße in Zukunft belegt werden können und wer darüber entscheidet, also wie der Streitbeilegungsmechanismus aussieht. "Da kommt es dann auf die Formulierungen an", sagte ein mit den Verhandlungen vertrauter Diplomat. Wenn man das löste, wäre der Weg zu einem Handelsvertrag frei.

Kanonenbootdiplomatie

Dennoch forderte Boris Johnson sein Land erneut dazu auf, sich auf ein chaotisches Ende der Übergangsfrist vorzubereiten. Man werde dann eben nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO mit dem größten Binnenmarkt der Welt zusammenarbeiten, erläuterte der konservative Regierungschef: "Das hat auch eine gewisse Klarheit und Einfachheit."

Die Schlagzeilen britischer Wochenendausgaben feierten indes die bevorstehende Entsendung von Kanonenbooten in den Ärmelkanal. Dort seien die 80 Meter langen Hochsee-Patrouillenboote dazu befugt, "französische Fischkutter" anzuhalten und zu entern, berichtete die konservative Times. Andernorts wurde ausdrücklich betont, die Schiffe seien bewaffnet. Man stelle sich auf "einen Aufstand" der mehr als 6000 Boote starken französischen Fischereiflotte ein, berichtete die Sunday Times. (14.12.2020)