Beim Big Ben in London ist noch lange nicht High Noon. Bis zur Frist am 31. Dezember haben die Brexitverhandler Zeit. Uhren anhalten und Fristen strecken hat Tradition in der EU.

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Vielen Menschen geht das endlose Hin und Her zwischen der britischen Regierung und den EU-Partnern schon gehörig auf die Nerven. Seit dem Austrittsreferendum im Juni 2016 hat der Brexit andere Themen in der gemeinsamen europäischen Politik oft verdrängt, obwohl diese wichtiger wären.

Ein EU-Gipfel nach dem anderen wurde vom Chaos in London überschattet. Die Premiers – David Cameron, dann Theresa May, nun Boris Johnson – traten mit immer neuen Volten und Forderungen auf. Oder das Unterhaus, das britische Parlament, schoss quer.

Deshalb verzögerten sich seit 2017 die Verhandlungen über die Konditionen zum EU-Austritt, den Brexit-Vertrag, um mehr als ein Jahr. Man wollte ihn eigentlich im Herbst 2018 unter Dach und Fach haben – das war noch unter österreichischem EU-Vorsitz beim Gipfel in Salzburg im September großes Thema.

Keine Mehrheit im Unterhaus

Es gelang nicht. Stattdessen wurden Fristen verschoben. Der angepeilte ruhige Übergang mit Sicherheiten für die EU-Bürger dies- und jenseits des Ärmelkanals stand immer wieder auf der Kippe. Ende 2018 handelte May einen Austrittsvertrag aus und scheiterte mangels Mehrheit im Unterhaus. Sie trat ab.

Die Europawahlen im Mai 2019 wurden in Mitleidenschaft gezogen, weil die Briten noch einmal mitwählten, Beschlüsse und Ratifizierungen in den nationalen Parlamenten unterblieben. Der Brexit klappte nicht. Der neue Premier Johnson brachte noch mehr Chaos. Erst am 31. Jänner 2020 kam es zum formellen EU-Austritt. Zwar ging es bei EU-Gipfeln seither ruhiger zu. Aber es begann eine neue Stop-and-go-Phase bei den Verhandlungen über den Freihandelsvertrag nach Auslaufen der Regelungen des EU-Vertrags.

Der Poker zwischen London und Brüssel lief schon seit Ende 2014, als der damalige Premier David Cameron die EU-Partner mit Forderungen nach Sonderkonditionen in einem leicht geänderten EU-Vertrag erpresste. Die bekam er auch, er zockte aber dennoch mit dem Austrittsreferendum.

Angehaltene Uhren

Wer glaubt, dass solche Vorgänge mit Zeitverzögerungen, Scheitern, neuem Starten, Immer-wieder-Weiterverhandeln bis hin zu "faulen" Kompromissen am Ende in der EU ungewöhnlich seien, liegt falsch. Im Gegenteil: Es ist eher die Regel. Die Briten mögen zwar besonders schräge und extreme Europäer sein. Aber bei vielen, um nicht zu sagen: fast allen sehr wichtigen EU-Entscheidungen und Weichenstellungen gab es in der Geschichte Rückschläge und Verzögerungen.

Im EU-Speak heißt es dann: "Wir halten die Uhr im Saal an." Man tut so, als gebe es keine Fristen. Der Zauber funktioniert meistens. Bei Österreich war das bei den Beitrittsverhandlungen 1994 so. Es gab – wie für Schweden, Finnland und Norwegen – eine "letzte Frist" zum Abschluss: 1. März, null Uhr. Das wurde verpasst, es klemmte beim Transitvertrag. In der "Verlängerung" fand man doch zusammen.

Wesentlich dramatischer war es im Sommer 2015 bei einem drohenden "Rauswurf" aus der EU: Um Zugang zu zig Milliarden aus dem Eurorettungsfonds zu bekommen, hätte Griechenland ein Reformpaket umsetzen sollen. Aber die Regierung in Athen lieferte nicht.

EU-Verträge im zweiten Anlauf

Eine "letzte Frist" bis Ende Juni lief damals unerledigt ab. Wochen später kam es bei einem EU-Gipfel in Brüssel zum Showdown. Nach einer durchgearbeiteten Nacht entschied die deutsche Kanzlerin Merkel auf Druck von Frankreichs Präsident François Hollande: Griechenland bleibt im Euro und in der EU.

"Nachspiele" gab es oft, wenn neue EU-Verträge ausgehandelt wurden. Wichtigstes Beispiel: Der Vertrag von Maastricht, der 1998 die Währungsunion brachte, war im Jahr 1991 nach der deutschen Wiedervereinigung ausverhandelt. Aber er scheiterte beim Referendum in Dänemark. Es gab Nachverhandlungen, Ausnahmeregelungen – ein Jahr später war "Maastricht" durch. Ähnlich war es beim 2005 gescheiterten "EU-Verfassungsvertrag". Er kam vier Jahre später als runderneuerter "Vertrag von Lissabon". Die Dealmakerin damals? Kanzlerin Merkel. (Thomas Mayer aus Brüssel, 13.12.2020)