John le Carré ist bereits am Samstag verstorben.

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Sein Werk mag mit dem Mauerfall und dem zumindest in der Theorie behaupteten Ende des Kalten Krieges etwas an Bedeutung verloren haben. In den 1960er- und 1970er-Jahren aber galten die Bücher von John le Carré als gut recherchierte Beweise dafür, dass die damals in den Westen und den Osten unterteilte Welt nicht unbedingt wegen der offiziellen Politik im waffenstarrenden Atomfrieden lebte. Hinter den Kulissen wurde die Vermeidung von Weltkriegen vielmehr mit den geheimen Schlachten von Männern und manchmal auch Frauen erkauft, deren Namen oft auf keinen Grabsteinen zu finden sind. Missing in action.

Dort, im Dienst diverser "Secret Services", speziell des britischen Militärgeheimdiensts MI6, kämpften sie um das Schicksal der Menschheit. An für cinematographische Nachtblenden und kalte, erbarmungslose und immer spätherbstliche bis winterliche Schwarz-Weiß-Filme geeigneten Orten wie Berlin, Prag, Zürich oder Wien wurden Mikrofilme, Aufmarschpläne oder akademische Überläufer, zum Beispiel sehr gern auch sowjetische Lenkraketentechniker und Atomphysiker, nachts in schwach beleuchteten U-Bahn-Stationen oder auf nebelumwobenen Brücken ausgetauscht. Die Richtung war klar festgelegt. Sie ging von Osten (Zehenabfrieren in Sibirien) nach Westen (Badespaß an der Côte d'Azur).

König der Spione

John le Carré war ein Mann vom Fach. Der 1931 im britischen Dorset als David John Moore Cornwell geborene König des Spionageromans nannte nicht nur einen Vater sein eigen, den er aufgrund von dessen notorischer Hochstapelei und Betrügerei ein ganzes Leben lang finanziell unterstützen musste, um für ihn Knieschüsse, Fingerabschneiden oder Schlimmeres zu vermeiden. Der nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz dem Vernehmen nach sehr schlecht in Deutsch und Germanistik ausgebildete Herr Cornwell trat 1950 auch dem besagten britischen Geheimdienst bei.

Er verbrachte damals im Rahmen seiner Tätigkeit zwei Jahre in Graz. Spezialgebiete: das Aufspüren von NS-Kriegsverbrechern und die Vernehmung von Personen, die durch den Eisernen Vorhang geflüchtet waren. Es ging im zweiten Fall um die Frage: Agent, Doppelagent, falscher Fünfziger, Wirtschaftsflüchtling, Kommunistenhasser, Philanthrop, Retter der Menschheit – oder einfach auch Côte d'Azur. Diese Abteilung. Später nutzte er sein von der britischen Krone finanziertes Studium, um an der Universität von Oxford eventuelle Sowjetagenten aufzuspüren, die für James Bond zu wenig glamourös und durchgeknallt waren.

Melancholische Protagonisten

Den Drang nach der solipsistischen Weltherrschaft wollte Cornwell ab den 1960er-Jahren unter dem Pseudonym John le Carré auch nicht als Verfasser von heutigen Klassikern des elegant geschriebenen und heute ein wenig altmodisch wirkenden Spionage- und Agentenromans zulassen. Wo der ebenfalls im britischen Geheimdienst auf sein literarisches Flunkern vorbereitete Ian Fleming seinen Helden James Bond durch Verfolgungsjagden, mondäne Bars sowie zahlreiche voreheliche Betten und Serienmorde trieb, gab es John le Carré mit seinem übergewichtigen und zart melancholischen Protagonisten George Smiley realistischer.

Im Kalten Krieg kann es, außer den verratenen, keine Ideale und schon gar keine Sieger geben. Schon gar nicht existieren dort testosterongetriebene Psychopathen mit einem für eine solide Geheimdienstkarriere wahrscheinlich eher hinderlichen Drang zu schnellen Frauen und schönen Autos. Erstens gilt, dass in dieser Welt keiner lebend rauskommt. Zweitens: Wer es dennoch schafft, ist innerlich tot.

Menschen sterben, so oder so

Der Spion, der aus der Kälte kam, speziell auch über seine düstere und deprimierende Verfilmung mit Richard Burton in der Hauptrolle zum Welterfolg in den 1960er-Jahren geworden, dürfte das bis heute bekannteste Werk von John le Carré sein. Es dürfte auch das Bild von Berlin als menschenfeindlicher und nur spärlich beleuchteter Mauerstadt für Jahrzehnte entscheidend geprägt haben.

Dame, König, Ass, Spion und Agent in eigener Sache, beide ebenfalls immer wieder einmal als Filmvorlage dienend, führten später den Kalten Krieg hinüber an die britische Heimatfront. "Die Russen" blieben als Widerpart allerdings gleich. Wobei John le Carré als Mann aus der Praxis wenig Aufhebens darum machte, welches politische und ideologische System nun besser wäre und edlere Menschen hervorbringen würde. Seine Weltsicht deutete immer eher darauf hin, dass Menschen erstens sterben, wenn man in sie hineinschießt. Zweitens gehen Menschen daran zugrunde, dass man sie für einen sogenannten höheren Auftrag betrügt, benutzt, missbraucht.

Welt am Abgrund

In den 1980er-Jahren beschäftigte sich John le Carré neben Das Russlandhaus in Die Libelle mit dem Nahostkonflikt. In den 1990er-Jahren kamen der internationale Waffenhandel in Der Nachtmanager und in Der ewige Gärtner die Pharmakonzerne zum Zug. Alle Stoffe wurden auch entsprechend erfolgreich verfilmt.

In seinem Spätwerk ging es um islamistischen Terror (Marionetten, 2008) oder die Russenmafia (Verräter wie wir, 2011). 2017 schließlich ließ er nach Jahrzehnten noch einmal sein literarisches Alter ego George Smiley auftreten. Das Vermächtnis der Spione muss als nachdrückliches Bekenntnis zu Europa gelesen werden. Im Vorjahr kehrte John le Carré trotz mehrmaliger Rückzugsbeteuerungen noch einmal zurück. Sein Roman Federball umkreist die natürlich für einen Fake-News-Profi wie ihn aufgelegten Themen Brexit, Trump, Datenmissbrauch, Russland – und eine Welt am Abgrund. 2019 beantragte er noch die irische Staatsbürgerschaft. Er wollte als Europäer sterben. Nun ist John le Carré im britischen Cornwall einer Lungenentzündung erlegen. Er wurde 89 Jahre alt. (Christian Schachinger, 14.12.2020)