In der noch kühlen Morgenluft sitzt hoch über dem Nil ein Schwarm Weißstörche auf den Mauerkronen der Festung Hisn al-Bab, deren Silhouetten sich scharf gegen die aufgehende Morgensonne abzeichnen. Die Ankunft eines Motorboots am Fuß der Festung vertreibt die Vögel, und sie ziehen weiter in Richtung der flussabwärts liegenden Inseln. Was nach einem romantischen Ausflugsziel in Ägypten aussieht, ist in Wahrheit der Arbeitsplatz eines Teams von Wissenschaftern aus Archäologie und Bauforschung.

Hisn al-Bab, Weißstörche auf den Festungsmauern.
Foto: ÖAW-ÖAI/ I. Mayer

Hisn al-Bab, eine spätantik-frühmittelalterliche Festung, liegt am östlichen Steilhang des Nils, direkt südlich des ersten Nilkatarakts bei Assuan. Hier, in unmittelbarer Nähe der einstigen Isis-Insel Philae, befand sich die historische Grenze zwischen Oberägypten und Nubien. Seit 2012 steht die fast vier Hektar umfassende Anlage im Fokus einer FWF-finanzierten Forschungskooperation zwischen dem Österreichischen Archäologischen Institut der ÖAW und dem Forschungsbereich Baugeschichte und Bauforschung der Technischen Universität Wien. Mittels archäologischer und bauanalytischer Methoden werden Bau- und Nutzungsgeschichte sowie Bedeutung und Rolle der Festung erforscht.

Hisn al-Bab, Blick vom Nordtor Richtung Süden.
Foto: ÖAW-ÖAI/I. Mayer

Making-of

Eine Topografie der Extreme, ein riesiges Untersuchungsgebiet, abgeschiedene Lage und klimatische Bedingungen, die das Arbeiten vor Ort auf einige Wochen im Jahr beschränken, führen zu besonderen logistischen Herausforderungen. So beginnt ein Arbeitstag in Hisn al-Bab noch vor der Morgendämmerung mit einer Fahrt im Geländewagen über Schotterstraßen nach Shellal, von wo aus es auf dem Wasserweg weitergeht. Ein Boot, das in der Saison als Ausflugsboot für Touristen dient, bringt bei aufgehender Sonne die Wissenschafter und die einheimischen Arbeiter, Equipment und Proviant in einer 20-minütigen Fahrt auf dem Nil zum Fuß der Festung. Über ein ausgetrocknetes, steil ansteigendes Felsen-Wadi wird dann die gesamte Ausrüstung hinauf zum Plateau der Festung gebracht.

Der Wissens- und Informationsaustausch zwischen Archäologen und Bauforschern ist bei einem so großen Objekt wie Hisn al-Bab essenziell für das Verständnis der Befunde und die Rekonstruktion der Bau- und Nutzungsphasen. So erstellt die Bauforschung die verformungsgerechte und detaillierte Baudokumentation der Anlage und entwickelt am erhaltenen Mauerwerk durch Analyse der Mauerwerkstechniken und Baumaterialien sowie der Typologien von Toren und Türmen eine relative Chronologie der Bauphasen. Die Archäologie untersucht im Rahmen der Ausgrabungen die Nutzungshorizonte der Anlage und versucht anhand der "Kleinfunde" – Keramik, Waffenteile oder auch organische Objekte wie Knochen oder Textilreste – eine absolute Chronologie zu bestimmen.

Hisn al-Bab, photogrammetrische Vermessung der Mauerkronen.
Foto: TU Wien/C. Cserko

Mauern, Tore, Türme

Bei einem Großteil der etwa einen Kilometer langen Festungsmauer wurden die topografischen und geologischen Gegebenheiten vor Ort genutzt und die Mauern auf Felsvorsprüngen oder Erhebungen errichtet. Die bis zu zwölf Meter hoch erhaltenen, an ihrem Fuß meist vier Meter dicken Mauern umschließen vier Bereiche, die aufgrund der Steilheit des Geländes nur teilweise für eine Besiedelung geeignet waren. Die gesamte Anlage verfügte wohl über mindestens zehn Tore, die sich vor allem in den Mauerabschnitten auf dem Hochplateau befinden. Allerdings scheint eine ausgewiesene militärische Nutzung bei den meisten Durchgängen eher fragwürdig. Einzig dem sogenannten Nordtor kann mit seinem zwingerartigen Vorbau, der geringen Durchgangsbreite, zwei Verschlussmöglichkeiten und einer verwinkelten Wegeführung eine effiziente Verteidigungsfunktion zuerkannt werden. Jedenfalls belegen die Tore die Gesamtanlage als ein Ergebnis mehrphasigen Um- und Ausbaus.

Hisn al-Bab, Lageplan mit Höhenlinien.
Foto: TU Wien, ÖAW-ÖAI. Aufnahme/Postprocessing: I. Mayer, T. Mitterecker

Präzise gesetztes Mauerwerk mit feinen Fugen, das jede Veränderung sofort ablesbar macht, findet sich in Hisn al-Bab nicht. Verwendet wurde das vor Ort vorhandene und gesammelte Material, vorwiegend unbehauene Granit-Bruchsteine. Je nach Auswahl entstanden unterschiedlich sorgfältige, in Lehmmörtel versetzte Schichtenmauerwerke. Ab einer Höhe von circa drei bis vier Meter wurde das Mauerwerk in Lehmziegeln fortgeführt.

Rätsel um die Funktion(en) der Anlage

Im Norden und Süden sowie in dem steilen, von Wadis zerfurchten "Cliff-Fort" konnten Spuren einer intensiven Nutzung als Wohn- und Werkstattbereich und zur Tierhaltung archäologisch nachgewiesen werden, die einem sehr engen Zeitraum zwischen dem späten 6. und dem frühen 7. Jahrhundert zugeordnet werden können. Auch die Funde im "nördlichen Fort", wo sehr umfangreiche Ausgrabungen stattfanden, belegen Stallhaltung. An der Nordwand ist ein Wohnraum mit angrenzendem Lagerraum nachgewiesen. Speziell hier kam eine große Bandbreite an Funden zutage: Spuren pflanzlicher Nahrung, Keramik- und Glasfragmente sowie Reste von Korbgeflecht und Textilien. Markante Brandspuren und eine Vielzahl zerbrochener Gefäße zeigen aber auch einen Zerstörungshorizont an. Die Dramatik dieses Zerstörungsereignisses ist in unmittelbarer Nähe auch an anderen Stellen erkennbar und spiegelt sich nicht zuletzt in der Fundfülle an menschlichen Überresten wider. Dazu gehören ein Gefallener, der unter umgestürzten Mauertrümmern verblieb, sowie eine Fundschicht (Areal 9) mit Schutt und Leichenteilen. Die Knochen weisen hier deutliche Anzeichen von Kampftraumata auf. Die ebenfalls hier gefundenen charakteristischen Pfeilspitzen belegen eine enge Verbindung mit Nubien – eine Verbindung, die sich auch in den Keramikfunden, der Wahl des Bauplatzes und der Bautechnik abzeichnet und somit den Status Hisn al-Babs als Grenzfeste nochmals unterstreicht.

Hisn al-Bab, nubische Pfeilschäfte, Areal 9.
Foto: ÖAW-ÖAI/G. Owen

Welche Hauptfunktion die Festung letztendlich hatte, ist noch zu klären. Sollte sie als reiner Außenposten ein Grenzgebiet schützen? Oder sollten am Katarakt der Handel kontrolliert und Waren verzollt werden? Oder verbirgt sich in Hisn al-Bab womöglich jener geheimnisvolle Ort des in einigen arabischen Quellen genannten "baqt", wo ab Mitte des 7. Jahrhunderts n. Chr. ein regelmäßiger Austausch der in einem Abkommen festgelegten Transferleistungen zwischen Nubiern und Ägyptern stattgefunden haben soll?

Hisn al-Bab, Blick vom Nil.
Foto: TU Wien/L. Albrecht

Kurz bevor die Hitze gänzlich unerträglich wird, beginnt das Team am Nachmittag den Abstieg und tritt nach einer Abkühlung im Nil die Rückfahrt nach Assuan an. Dort werden die vor Ort gesammelten Daten – Zeichnungen, Fotos, Messungen – inventarisiert und überarbeitet. Die Arbeit auf der Festung und das Enträtseln ihrer Geheimnisse werden beim nächsten Sonnenaufgang fortgesetzt. (Pamela Rose, Marina Döring-Williams, 17.12.2020)