Lieder gegen das Verschwinden im Lockdown.

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Als im März die Epoche des Lockdowns begann, mögen viele Bewohner einer in den Tiefschlaf versetzten Welt auch einen Hauch von "Entschleunigung" verspürt haben. Meditative Apathie und der Zeitvertreib in der existenziellen Transitzone führte etwa bei Startenor Jonas Kaufmann auch zu ausgiebiger Lektüre. Doch schnell kam bei ihm die Stunde der Ungeduld. Nach vier Beethoven-Biografien befand Kaufmann, es wäre wieder an der Zeit, die Stimme zu erheben.

Ins Studio konnte er nicht – dessen Schließung war staatlich verordnet worden. Und erst nachdem Grenzbeamte bei Kaufmanns Label Sony angerufen hatten, durfte der Wiener Pianist Helmut Deutsch nach Bayern einreisen, um zumindest in Kaufmanns Haus Lieder aufzunehmen.

Selige Stunden mit Liedern

Die Einspielung Selige Stunde rückte so auch in den Rang eines Lockdown-Dokuments, von denen nun einige erschienen sind. Und: So unmittelbar und ehrlich klang Kaufmann selten. Gustav Mahlers Ich bin der Welt abhanden gekommen wird regelrecht zum Zeitgeist-Soundtrack. Zeilen wie "Ich leb allein ... in meinem Lied!" repräsentierten im März erstmals ein (noch aktuelles) Lebensgefühl, das auch den Komponisten Mathias Rüegg nervte. Auch wenn er – wie alle Komponisten – die Situation kennt: Die Tonsetzerei ist eine Eremitentätigkeit.

Akt der Notwehr

Zu ihr quasi von der Regierung verdonnert zu werden, empfand Rüegg, einst Chef des Vienna Art Orchestra, jedoch als Provokation. Er wollte "dem Lockdown nichts Positives zuschreiben!", vielmehr in einem Akt der Notwehr mit selbstgestellten Aufgaben "meine kreative Abrufbarkeit testen" und sich so zusätzlich "von dem ganzen Wahnsinn abgrenzen."

Ab 19. März zwang er sich, "von Donnerstag bis Montag zwischen 18.00 und 22.00 Uhr jeweils ein Stück zu schreiben". So entstand Solitude Diaries mit 40 Charakterstücken für Klavier, die zwischen Jazz und Klassik pendeln. Die Veröffentlichung strahlt denn auch nicht nur elegischen Weltschmerz aus. Es dominiert eher wohlstrukturierter heiterer Zorn.

Viel Eiscreme

Von einem solchen kann ein Interpret wie Geiger Daniel Hope eher nicht berichten. Er ließ sich zum ersten Lockdown-Start "mal einen Bart wachsen" und nervte, wie er selbst schildert, seine Frau. Immerhin: Netflix-Serien und "kiloweise Eiscreme" halfen über erste heikle Momente der seltsamen Situation hinweg.

Irgendwann reichte es allerdings: Hope begann damit, seine Hausmusik in die Welt zu senden, und "Hope@Home" wurde zur beliebten Konzertreihe. Mit Pianist Christoph Israel an seiner Seite lud er, von Arte übertragen, in sein Berliner Wohnzimmer ein: "Es war ein Versuch, das Hauskonzert in die digitale Welt einzubringen", so Hope. Einzelmomente dieser 34 Folgen sind bei der Deutschen Grammophon erschienen. Und: Die Miniaturen sind unterhaltsame Musikschnappschüsse einer speziellen Erfahrung, etwa wenn Irgendwo auf der Welt mit Max Raabe wehmütig abhebt.

Sechs intensive Wochen

Zu jener Zeit ging es für Keyboarder und Komponist Clemens Wenger (u. a. 5/8erl in Ehr’n) weniger darum, Botschaften aus der Einkehr zu senden. Die berufliche Notbremsung nutzte Wenger eher zur Verarbeitung angestauten Materials, das zu Physics of Beauty führte.

Die Einspielung pendelt originell zwischen allerlei stilistischen Regionen, die elektronisch verarbeitet wurden. Das Besondere ist auch die rein digitale Veröffentlichung mittels einer interaktiven Homepage: "Ohne den Lockdown wäre das auch nicht in dieser speziellen Form rausgekommen. Sechs Wochen volle Konzentration waren fast schon ein Luxus!" Wenger versteht seine Einspielung auch als Angebot, den Überdruss gegenüber zu viel Nachrichten, Streams, Netflix und Social Media abzubauen. "Man kann sich den eigenen Computer-Screen zu einem ästhetischen Ort umgestalten, Physics of Beauty anhören, erforschen, was die Interaktion mit den Visualisierungen so anstellt."

Nun geht es um Geld

So unterschiedlich die Musikreaktionen auf den ersten Lockdown wirken, so einheitlich scheint das Bewusstsein eines wachsenden ökonomischen Problems zu sein. Daniel Hope hat reagiert und die zweite Folge von "Hope@Home" umgestaltet: "Den jungen sowie selbstständigen Künstlern wurde der Boden unter den Füßen weggezogen." Deshalb widmete er die zweite Staffel denen, die "wirklich Hilfe brauchen. Neben einer weltweiten Plattform bekommen alle ein Auftrittshonorar von Arte."

Sie werden es womöglich so nötig brauchen wie noch einiges an Geduld – angesichts nahender prolongierter Schließungen des öffentlichen Musiklebens. (Ljubiša Tošic, 14.12.2020)