In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1930 floh der 56-jährige Ivan Burduja gemeinsam mit seiner gleichaltrigen Frau Alexandra und dem 16-jährigen Sohn Mitrofan mit einem Boot über den Dnjestr (rumänisch Nistru, ukrainisch Dnister) aus der Sowjetunion nach Rumänien. Im selben Boot waren auch der 20-jährige Toma Onică, seine Frau Ana, 18 Jahre alt, ihr vier Monate altes Baby und Tomas Bruder, Andrei Onică, 17 Jahre alt. Kaum waren sie am anderen Ufer angekommen, wurde die Gruppe von zwei rumänischen Soldaten festgenommen. Als die Grenzwachen sie verhörten, sagten die Geflüchteten aus, dass sie Bauern seien, die aufgrund des Eintritts in die Kolchose ihr ganzes Hab und Gut verloren hätten. Ohne Essen und aus Angst vor weiteren Repressionen der sowjetischen Behörden seien sie nach Rumänien geflüchtet, wo bereits Verwandte von ihnen lebten. Die Grenzwachen kontrollierten sowohl die Dokumente als auch die Kleidung und das Geld, das die Aufgegriffenen bei sich hatten, und brachten sie nach Cetatea Albă (heute Bilhorod Dnistrov'skyj), wo sie um Anerkennung als politische Flüchtlinge ansuchen wollten.[1]

Solche und ähnliche Szenen hatten sich bereits seit 1929, dem Beginn der Zwangskollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft, an der fast eintausend Kilometer langen Dnjestr-Grenze zwischen Rumänien und der Sowjetunion abgespielt. Egal ob Winter oder Sommer, die Grenzwachen beobachteten, wie die Menschen über den Dnjestr flohen – mit dem Boot, schwimmend oder sogar zu Fuß, wenn der Fluss zugefroren war. Laut Schätzungen der rumänischen Polizei waren es 1927 57 Personen gewesen, 1928 schon 91, und 1929 stieg diese Zahl auf über 130. Zwischen 1932 und 1934, während der Hungersnot, sollte es Monate mit hunderten Flüchtlingen und noch viel mehr gescheiterten Fluchtversuchen geben.[2]

Grenzübertritte

Wie ging nun der rumänische Staat mit der zunehmenden Zahl an Grenzübertritten um? Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte es keine "Flüchtlingskrise" mehr gegeben.[3] Damals hatten bis zu 40.000 Menschen aus dem Russischen Reich, vor allem Juden, Zuflucht in Rumänien gefunden. Rumänien hatte sie unter der Bedingung aufgenommen, dass sie das Land bald wieder verlassen würden.[4] Die Flüchtlinge, die in den 1930er-Jahren ankamen, waren ukrainisch- und rumänischsprachige orthodoxe Bauern. Diese beabsichtigten, wie sie selbst angaben, in Rumänien zu bleiben und dort ein neues Leben anzufangen. Sie in die Sowjetunion zurückzuschicken hätte zu Repressionen oder ihrer Deportation geführt. Darüber waren die rumänischen Behörden bestens informiert. Die geflüchteten Bauern kamen aber in Bessarabien an, einem Gebiet, das die rumänische Armee erst 1918 annektiert hatte. Daher befand sich Rumänien in einem territorialen Streit mit der Sowjetunion. Die Unsicherheit über den Status des östlichen Grenzgebiets und die wiederholten Versuche der Sowjets, dieses zu destabilisieren, führten zu erhöhten Sicherheitsvorkehrungen. Die Angst vor einem sowjetischen Überfall sowie die Jagd nach "sowjetischen Spionen" waren in der Zwischenkriegszeit weit verbreitet. In jeder Person, die aus der Sowjetunion einreiste, erblickten die rumänischen Sicherheitsbehörden einen potenziellen Spion.

Blick auf den Dnjestr aus Varnița (Republik Moldau) auf die nicht anerkannte Republik Transnistrien.
Foto: andreea kaltenbrunner

Die Kollektivierung in der Moldauischen Sowjetrepublik

Die Kollektivierung der Landwirtschaft war eines der größten sozialen Experimente in der Geschichte. Innerhalb von wenigen Monaten begann "der sowjetische Staat im ländlichen Raum eine zweite Revolution, die für viele tiefer und schockierender als die bolschewikische Revolution" war.[5] Stalins Plan war, alle Getreideanbaugebiete zu einem Kollektivsystem zu organisieren, um die Versorgung der Städte zu sichern und die Industrialisierung voranzutreiben.[6] Die Orte Slobozia (russ. Slobodzeia) und Nezavertailovka, woher die Familien Burduja und Onică stammten, lagen direkt am Grenzfluss Dnjestr und gehörten zur Autonomen Moldauischen Sowjetrepublik[7], die heute in etwa der international nicht anerkannten Republik Transnistrien entspricht. Gegründet 1924, hatte die Republik rund eine halbe Million Einwohner, mit einem fast gleich hohen Anteil an ukrainisch- und rumänischsprachigen Bewohnern. Dort waren im Februar 1930 etwa 30 Prozent der Bauernhöfe kollektiviert, einen Monat später bereits 45,6 Prozent und 1931 waren es 68 Prozent.[8] Die Konfiszierung des Landes, der Geräte und des Viehs stieß dort wie überall auf Widerstand. Die Getreideabgabequoten, zu welchen die neu gebildeten Kolchosen verpflichtet wurden, machten die Lage noch unerträglicher. Gegen alle Formen des Widerstands ging die sowjetische Führung mit der Verfolgung der sogenannten "Kulaken" vor. Als Kulaken wurden von den Sowjets zunächst "wohlhabende" Bauern bezeichnet, doch bald wurde der Terminus für alle verwendet, die sich ihren Maßnahmen angeblich oder tatsächlich widersetzten. Einem Kulaken drohten Repression und die Deportation nach Sibirien und in andere weit entfernte Gebiete.[9]

Ivan Burduja hatte alle diese Umwälzungen selbst erlebt. Nachdem die Sowjets sein Land und sein Haus beschlagnahmt und ihn zum Kulaken stigmatisiert hatten, verschickten sie ihn nach Sibirien. Laut seinen eigenen Angaben war ihm nach acht Monaten in der Region Tomsk die Flucht gelungen. Zurück in seinem Heimatdorf nahm er seine Frau und seinen jüngsten Sohn mit und flüchtete nach Rumänien. Drei seiner Kinder blieben zurück. Der Vater von Toma und Andrei Onică war ebenfalls deportiert worden und nicht wieder zurückgekommen. Diese beiden Beispiele stehen für die rund 850 Menschen aus dieser Gegend, die in den ersten Monaten des Jahres 1930 deportiert worden waren.[10]

Millionen Bauern verließen infolge der Zwangskollektivierung ihre Dörfer, die meisten von ihnen gingen in die Städte.[11] Diejenigen, die zurückblieben, leisteten nicht selten offenen Widerstand.[12] Die Gewalt, mit der die Kollektivierung umgesetzt wurde, ist vielfach beschrieben worden.[13] Ein Journalist, der für die Prawda arbeitete, schrieb einem Kollegen, was er auf einer Dienstreise in der Moldauischen Sowjetrepublik gesehen hatte: "Es gibt Dörfer direkt an der Grenze zu Rumänien, wo nicht ein einziges Bauernhaus ohne zerstörten Ofen übriggeblieben ist. Sie haben die Strohdächer zerstört und im Stroh des Daches nach Maiskolben gesucht. Wenn sie Getreide gefunden haben, haben sie den Bauern, egal ob Armer, Mittelbauer oder Reicher, zum Kulaken gemacht und ihn mit einer Getreideabgabequote und Geldstrafe belegt – in einem Ausmaß, das unmöglich zu zahlen war. In derselben Nacht, aber spätestens am nächsten Tag, verkauften sie den gesamten Besitz (in einer Reihe von Fällen verteilten sie ihn einfach) und zogen den Bauern und seine Familie wortwörtlich aus."[14]

Verhören, überwachen, bestrafen

Über den Verbleib der Familien Burduja und Onică in Rumänien entschied die Kreispolizei von Cetatea Albă in Zusammenarbeit mit der Regionalpolizei, dem Geheimdienst sowie einer Art lokaler Flüchtlingskommission. Diese leiteten ein Untersuchungsverfahren ein, um festzustellen, ob die Bauern echte Flüchtlinge oder Spione beziehungsweise Schmuggler waren. Die Sicherheitsbehörden waren speziell dafür ausgebildet worden. Für die Aufdeckung von Spionen waren materielle Anreize vorgesehen.[15] Für jeden aufgegriffenen Schmuggler etwa bekamen die Grenzbeamten den halben Wert der geschmuggelten Waren. Tabak, Wein, Zucker und Pfeffer – Waren, die damals bei den Schmugglern beliebt waren – wurden verkauft und der Erlös zwischen Staat und Grenzbeamten aufgeteilt.

In einem ersten Verhör, welches aus 46 Fragen bestand, erfassten die Behörden unter anderem die Religionszugehörigkeit und die politische Einstellung der Flüchtlinge. Man erkundigte sich auch nach der politischen und wirtschaftlichen Lage im Heimatort. So erklärten die Bauern, dass dort "große Unzufriedenheit gegenüber der Kollektivierung der Landwirtschaft" herrsche, die "Religion konnten sie aber noch frei ausüben". Zum Schluss wollten die Behörden noch wissen, wieso sie "nach Rumänien und nicht in andere Länder geflüchtet" waren: weil es am nächsten lag und sie "so schnell wie möglich den Kommunisten" zu entkommen trachteten, war die Antwort. Die Familien Burduja und Onică überstanden alle diese Prüfungen. Eine Nachschau im Strafregister war negativ verlaufen, und ein sogenannter "Präsident der Rumänen aus Transnistrien", der die ethnische Zugehörigkeit der Geflüchteten feststellen musste, "definierte sie als Rumänen." Die lokale Kommission von Cetatea Albă erkannte ihnen innerhalb von 18 Tagen einen provisorischen Flüchtlingsstatus zu.

Doch damit endete das Verfahren nicht. Die Behörden schickten die Flüchtlinge nach Chișinău, wo sie "wegen illegaler Einreise" verhaftet wurden. Da die Bauern kein Geld für die Fahrt in die bessarabische Provinzhauptstadt hatten, gestattete die Polizei, dass nur die beiden Familienoberhäupter, Ivan Burduja und Toma Onică, dorthin reisten, während die Frauen und Kinder bei Verwandten unter der Überwachung der lokalen Gendarmen bleiben durften. Nach 26 Tagen im Gefängnis von Chişinău wurden die beiden entlassen und hatten eine Geldstrafe von je 50 Lei zu entrichten.

Erst jetzt wurde allen sechs Personen endgültig der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Der Fall endete aus mehreren Gründen positiv für die Geflüchteten. Die Bauern gaben an, "Moldauer" zu sein, was aufgrund ihrer Sprachkenntnisse auch plausibel war. Bisweilen ermutigten die Behörden die Flüchtlinge aber auch, "ihre rumänische Identität" zu entdecken.[16] Viel entscheidender war aber die Tatsache – wie die Behörden immer wieder betonten –, dass die Verwandten in Rumänien "die Mittel" hatten, den Geflüchteten das "Überleben zu sichern". Es gab Fälle, in denen die Bauern diese Voraussetzungen nicht erfüllten, sodass sie zurück in die Sowjetunion geschickt wurden. Die letzten Spuren, welche die beiden Familien in den Akten hinterließen, stammen aus dem Jahr 1931, als sie einen Antrag auf die rumänische Staatsbürgerschaft stellten.

Rechtzeitig geflüchtet

Die Lage in der Moldauischen Sowjetrepublik sollte sich – ebenso wie in der Sowjet-Ukraine – in den kommenden Jahren massiv verschlechtern. Der Zwangskollektivierung folgte eine Hungersnot, bekannt als Holodomor (von ukrainisch holod, Hunger, und moryty, verhungern lassen), der seriösen Untersuchungen zufolge etwa 4,5 Millionen Menschen, die überwiegende Mehrheit von ihnen Ukrainer, zum Opfer fielen.

Um den Massenexodus aus den Dörfern zu stoppen, traf die sowjetische Führung mehrere Maßnahmen: Die Grenzen der Sowjet-Ukraine wurden im Jänner 1933 dichtgemacht, der Landbevölkerung wurden Pässe vorenthalten, wodurch sie ihre Dörfer nicht mehr verlassen konnte. Ganze Ortschaften entlang des Dnjestr-Ufers wurden nach Sibirien deportiert. Neben der verstärkten Kontrolle am Dnjestr bauten die Sowjets auch einen zwei Meter hohen Eisenzaun an den Stellen, wo Grenzübertritte nach Rumänien besonders häufig waren.[17] Auch wenn dadurch die Flucht viel gefährlicher wurde und die Erfolgschancen sanken, gab es immer mehr Fluchtversuche, je schlimmer die Hungersnot wurde.[18]

Über das weitere Schicksal der Bauern, die in den Jahren 1932 und 1933 nach Rumänien flüchteten, ist wenig bekannt. Sicher ist, dass die rumänischen Behörden gegenüber den "Pseudo-Flüchtlingen" vom anderen Dnjestr-Ufer, die Chișinău regelrecht "überfielen" und unter denen sich angeblich viele "sowjetische Spione" befunden hätten, wenig Empathie zeigten.[19] Es sind Berichte mit Überlegungen erhalten geblieben, wie mit den Flüchtlingen von 1932 und 1933 umzugehen sei: Diejenigen, die für antisowjetische Propaganda einsetzbar waren, sollten bleiben dürfen, ebenso alle, die in Rumänien Verwandte hatten. Alle übrigen sollten möglichst rasch in andere Länder weitergeschickt werden.[20] (Andreea Kaltenbrunner, 19.12.2020)